Nachfolge im Einzelhandel

Der richtige Moment

Von Sortiment bis hin zu den Beziehungen zu Mitarbeitern und Lieferanten: Wer ein bestehendes Einzelhandelsgeschäft übernimmt, wagt in vielfacher Weise den beruflichen Neustart. Eine Unternehmerin und ein Unternehmer erzählen von Übergängen und Neuland.

Der richtige MomentFoto: PR

„Sicher wäre es auch schön gewesen, schon vor fünf Jahren etwas Eigenes aufzubauen“, überlegt Ana Priester. „Für mich wäre das der perfekte Lebensabschnitt gewesen. Nur passten die Umstände nicht.“ Rund 15 Jahre lang war sie als Mitarbeiterin von Mode Müller in Mössingen tätig, bevor sie die Boutique 2018 übernahm. Wenige Jahre zuvor hatte sie die Nachfolge noch abgelehnt. „Eines meiner Kinder stand gerade vor dem Abitur, ein anderes war eben eingeschult worden. Außerdem glaube ich, dass der Ausstieg für meine Chefin viel zu früh gewesen wäre. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt, und zwar für
uns beide.“

Übernahme im zweiten Anlauf
Die Frage nach der Nachfolge blieb jedoch bestehen – und ihre Chefin hartnäckig. Als sie fünf Jahre später ihr Angebot erneuerte, zögerte Ana
Priester nicht lange. „Die Kinder waren groß und ich hatte die Hände frei, um mein eigenes Ding zu machen.“ Um zu gewährleisten, dass zum Saisonbeginn
aktuelle Trends vorrätig sind, ist langfristige Planung in der Modebranche unerlässlich. Ihre erste Kollektion kaufte Ana Priester daher bereits ein Jahr vor der Übergabe. Dass sie sich in der Branche nun selbst
einen Namen machen musste, spürte sie dabei deutlich: Lieferanten, bei denen ihre Vorgängerin auf Rechnung kaufen konnte, wollten von ihr ein SEPA-Lastschriftmandat – sicherheitshalber.

Gründerkredite stärkten der angehenden Unternehmerin während dieser Zeit zwar den Rücken, doch die größte Unterstützung kam vonseiten ihrer Chefin. „Sie hat mich beraten, ging mit mir auf Fashion Weeks – und sie wollte keine Ablöse von mir. Ich habe im Grunde nur den Mietvertrag übernommen und das Inventar gekauft. Das war ein immenser Vorteil und auch sehr großzügig.“ Ihr freundschaftliches Verhältnis zueinander pflegen die beiden Unternehmerinnen übrigens bis heute. Mindestens einmal im Monat besucht ihre ehemalige Chefin die Boutique, deren neuer Name sowohl Ana Priesters brasilianische Wurzeln
als auch den Wandel innerhalb des Unternehmens anklingen lässt: Agora, das portugiesische Wort für „jetzt“.

Herausforderung gesucht
Von der Bedeutung des richtigen Moments für den Neustart als Unternehmer kann auch Hermann Graf zu Castell-Rüdenhausen berichten. Im Gegensatz zu Ana Priester machte er
sich jedoch ganz bewusst auf die Suche nach einem Unternehmen, mit dem er den nächsten Schritt auf dem Karriereweg wagen konnte. Als er 2015 erfuhr, dass die Stopper Schießsportausrüstungen GmbH & Co. KG. in Albstadt-Onstmettingen zum Verkauf stand, wurde er hellhörig. „Zuvor war ich als Leiter der Unternehmenskommunikation im Maschinenbau tätig. Da ich aber selbst Jäger bin, bringe ich eine gewisse Affnität zum Schießsport mit“, erzählt er. Bevor der Traum vom eigenen Unter- nehmen wahr werden konnte, musste er allerdings noch die Waffenfach- kundeprüfung ablegen. Eine Weiterbildung, die ihm auf zweifache Weise dabei half, in der neuen Branche Fuß zu fassen. „Einer meiner damaligen Prüfer ist heute unser Büchsenmachermeister. Nach bestandener Prüfung kamen wir ins Gespräch und er erzählte mir, dass auch er nach einer neuen Herausforderung suchte. Die fand er in unserer Werkstatt.“

Die hauseigene Werkstatt, in der Kunden sowohl Reparaturen als auch Umbauarbeiten in Auftrag geben können, ist nur eine der zahlreichen kleinen und größeren Neuerungen, die unter
der neuen Leitung entstanden sind. Als leidenschaftlicher Jäger erweiterte Hermann Graf zu Castell-Rüdenhausen das Angebot beispielsweise auch um ein Jagdsportsegment, mit dem Stopper Schießsportausrüstungen heute rund ein Viertel des Jahresumsatzes erzielt. Den eigenen Stempel aufdrücken „Es gibt viele Wege, um einem bestehenden Unternehmen den eigenen Stempel aufzudrücken“, erklärt er. „Deshalb glaube ich auch, dass es gerade im Mittelstand so einige gibt, die durchaus gern ein bestehendes Unternehmen übernehmen, die eine Marke
fortführen und sich zueigen machen würden. Nur wissen viele nicht, ob und wie sie das schaffen können.“ Einen Tipp würde Hermann Graf zu Castell-Rüdenhausen angehenden Unternehmern daher immer mit auf
den Weg geben: „Nutzen Sie alle Beratungsangebote, bevor Sie sich entscheiden, ob Sie gründen oder nicht doch übernehmen wollen. Ich will nicht sagen, dass es immer leicht war – aber ich habe meine Entscheidung keine Sekunde bereut.“