Osteuropa-Experte Klaus Gestwa

„Der Krieg wird andauern“

Am 24. Februar 2023 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zum ersten Mal. Osteuropa-Experte Klaus Gestwa spricht im WNA-Interview über die Wehrhaftigkeit der Ukrainer, die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs und den bröckelnden Burgfrieden im Kreml.

Osteuropa-Experte Klaus GestwaBeschäftigt sich seit mehr als dreißig Jahren mit der Geschichte und der Gegenwart Osteuropas: Klaus Gestwa. Foto: PR

WNA: Kam der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar für Sie überraschend?
Gestwa: Als Putin im Juli 2021 in seinem Traktat über die vermeintliche historische Einheit der Ukrainer und Russen der Ukraine die Daseinsberechtigung abgesprochen hatte, deuteten das die Fachleute schon als Auftakt zu einer neuen Moskauer Aggressionspolitik. Im Dezember 2021 nahm der Kreml dann mit einem mächtigen Truppenaufmarsch die Ukraine in militärische Geiselhaft, um die USA und die Nato mit sicherheitspolitischen Ultimaten dazu zu zwingen, die seit den 1990er-Jahren entstandene europäische Friedensordnung außer Kraft zu setzen. Diesen imperialen Erpressungsversuch gab Putin als Wahrung russischer Sicherheitsinte-ressen aus. Auf der großen Bühne der Krisendiplomatie spielte er sodann politisches Schmierentheater. Zugleich mehrten sich die Hinweise, dass Russland längst auf einen Kriegskurs eingeschwenkt war. Der Überfall der russischen Streitkräfte am 24. Februar 2022 kam für mich daher wenig überraschend, er hat mich gerade wegen der massiven Invasion aber geschockt.

Sind Sie zu Beginn des Krieges davon ausgegangen, dass er so lange dauern wird?
Unsere ukrainischen Freundinnen und Freunde haben die Wehrhaftigkeit ihres Landes von Beginn an vehement betont und sollten damit Recht behalten. Schon bald hatten die russischen Angreifer die Schlacht um Kiew verloren. Putins Eroberungsfeldzug war auch angesichts des desolaten Zustands seiner Armeen gescheitert. Dennoch hält der Kreml bis heute an seinem Maximalziel fest, die Ukraine unter das Moskauer Joch zu zwingen. Die Ukraine zeigt sich aber weiter widerstandsbereit und wehrhaft. Der Krieg wird darum auch 2023 andauern.

Trauen Sie Putin den Einsatz von Atomwaffen zu?
Wladimir Putins nukleares Säbelrasseln hat die Fachleute zunächst wenig besorgt. Die Lage spitzte sich aber zu, als der Kreml Ende September 2022 erklärte, die russische Atomdok-trin würde sich fortan auf die gerade neu annektierten Gebiete beziehen. Auf diesen nuklearen Erpressungsversuch hin zogen die USA und die Nato eine klare rote Linie. China, Indien und die Türkei verdeutlichten, dass ein Atomwaffeneinsatz Russland dauerhaft zum Paria der Weltgemeinschaft machen würde. Als sich die russischen Streitkräfte Anfang November 2022 bei Cherson über den Fluss Dnipro hinweg zurückzogen, verpuffte Putins nuklearer Bluff. Ein Atomwaffeneinsatz ist dadurch unwahrscheinlicher geworden.

„Mit der Geschlossenheit der EU hat Putin nicht gerechnet“

Klaus Gestwa

Bundeskanzler Olaf Scholz betont immer wieder, dass er es für wichtig hält, mit Russland und Putin im Gespräch zu bleiben. Halten Sie dies ebenfalls für den richtigen Ansatz?
Ja. Scholz telefoniert mit Putin, um zu sondieren, ob es Anzeichen eines Einlenkens gibt. Bislang haben diese Gespräche den deutschen Kanzler frustriert. Scholz scheint aber umsichtig genug zu sein, Putin bei den Gesprächen keine eigenmächtigen Zugeständnisse zu machen. Jeglicher Anschein deutsch-russischer Sonderverhandlungen würde nämlich die Ukraine und die westlichen Partner schwer verprellen.

Welche Szenarien sehen Sie, um ein Ende des Kriegs herbeizuführen?
Ich werde mich nicht in die Riege der Lehnstuhldiplomaten einreihen, die über alle politischen Realitäten hinweg Friedensverhandlungen herbeifantasieren und gern mit dem Rotstift über die Landkarte der Ukraine fahren. Viele Szenarien sind vorstellbar, abhängig von der militärischen Lage und den damit verbundenen politischen Prozessen. Der Weg zu Waffenstillstandsverhandlungen wird nur über weitere Waffenhilfe für die Ukraine führen. Die Lieferung von Patriot-Abwehrsystemen ist längst überfällig, um die ukrainischen Städte vor den menschenverachtenden russischen Raketen- und Drohnenangriffen zu schützen. Auch die Lieferung von Kampfpanzern scheint unausweichlich, damit sich im Kreml endlich die Erkenntnis durchsetzt, dass es keine Alternative zum Rückzug der russischen Streitkräfte aus der Ukraine gibt.

Krieg in der UkraineSchrecken des Krieges: Blick auf ein zerstörtes Einkaufszentrum in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Foto: misu - stock.adobe.com

Wie könnte eine dauerhafte Friedenslösung in Europa unter Einbeziehung Russlands aussehen?
Die zweitgrößte Atomstreitmacht der Welt kann nicht dauerhaft im internationalen Abseits verbleiben, sondern muss in die europäischen Wirtschafts- und Sicherheitsstrukturen eingehegt werden. Dazu bedarf es zunächst einer tiefgehenden „Entputinisierung“ der russischen Politik, verbunden mit einer imperialen Dekontamination der Eliten und der Gesellschaft. Das wird ein komplizierter Prozess werden. Russland wird daher in der nächsten Zeit ein äußerst schwieriger politischer Akteur bleiben.

Sie haben viele Kollegen und Freunde in der Ukraine. Was berichten Ihnen diese über ihre aktuelle Stimmung?
Niemand sehnt sich mehr nach Frieden als die Ukrainer – aber nicht nach einem Frieden um jeden Preis, sondern nach einem gerechten und dauerhaften Frieden. Ungeachtet der schmerzhaften Kriegserfahrungen sehe ich bei meinen ukrainischen Bekannten eine starke Aufbruchstimmung und die große Hoffnung, dass die Ukraine auf der langen Suche nach sich selbst endlich zu sich finden kann.

Was macht der Krieg mit der Europäischen Union? Bislang steht die EU bei allen Entscheidungen rund um den Krieg noch eng zusammen, etwa bei gemeinsamen Sanktionen oder Waffenlieferungen. Könnte sich dies ändern?
Mit der Entschlossenheit und Geschlossenheit der EU hat Putin nicht gerechnet. Sein autoritäres Regime hat seine Faszination verloren, während das europäische Demokratie- und Friedensprojekt aus dem Kriegsgeschehen gestärkt hervorgehen wird – weil allen klar geworden ist, dass es dazu keine Alternative gibt.

Hintergrund

13,7 Mio. Ukrainerinnen und Ukrainer haben nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) seit Kriegsbeginn ihr Land verlassen.

6,4 Mio. sind in der Zwischenzeit wieder in die Ukraine zurückgekehrt.

Was denken Sie über einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine?
Dadurch könnte die Ukraine die gigantischen Aufgaben des anstehenden Wiederaufbaus besser meistern. Die Europäische Union  sollte auf diese Prozesse umsichtig Einfluss nehmen, aber den Eindruck der Bevormundung vermeiden. Wichtig ist zugleich, beim aktuellen Fokus auf die Ukraine die Westbalkanstaaten nicht aus dem Blick zu verlieren. Hier müssen die politischen Spannungen durch eine sinnvolle Integrationspolitik gleichsam entschärft werden.

Putin hat seine öffentlichen Auftritte in den vergangenen Monaten stark reduziert. Einige Beobachter deuten dies als Angst Putins vor einer zunehmenden Anti-Kriegsstimmung im Land. Steht das russische Volk noch hinter seinem Präsidenten?
Seit der Teilmobilmachung Ende September 2022 ist die Zustimmung zum Krieg merklich gesunken. Aber die gesellschaftliche Stimmung wird kaum größeren direkten Einfluss auf die Kriegspolitik des Kremls haben. Die Eliten, die mit dem Aufstieg des Putinismus während der vergangenen zwei Jahrzehnte entstanden sind, werden darüber entscheiden, ob sie weiter auf Putin setzen, dem offensichtlich längst die Einsicht in die politische Realität verloren gegangen ist. Der Burgfrieden im Kreml hält noch. Er hat aber schon längst zu bröckeln angefangen.

„Spätestens nach der Krim-Annexion war klar, dass Putin auf Konfrontation gegen den Westen gegangen war“

Klaus Gestwa

Haben wir Putin viel zu lange falsch eingeschätzt?
Spätestens nach der Krim-Annexion war klar, dass Putin auf Konfrontation gegen den von ihm verhöhnten „kollektiven Westen“ gegangen war. Als falsches politisches Signal bestärkte Nord Stream 2 ihn in seinem (Irr-)Glauben, dem friedens- und wohlstandsverwöhnten Europa seien Gas und Gewinne wichtiger als die Ukraine. Der BDI-Präsident Siegfried Russwurm hat mittlerweile den „historischen Irrtum“ der deutschen Wirtschaft eingestanden. Der SPD-Chef Lars Klingbeil räumte kürzlich ein, die Berliner Regierungen hätten in ihrer Verklärung der Ostpolitik zu sehr auf das Verbindende und so zu wenig auf das Trennende geschaut. Bei dem vor allem nach Moskau gerichteten Blick seien die Warnungen der Ukraine, Polens und der baltischen Staaten zu wenig beachtet worden. Wie wahr!

Sie sagten unlängst, der Ukraine-Krieg sei vor allem eine Machtdemonstration Putins, um Russlands politische und ökonomische Schwäche zu kaschieren. Wenn Sie einen Blick in die Zukunft werfen: Wie könnte Russland in zehn Jahren dastehen?
Russlands Wirtschaftsmodell des fossilen Staatskapitalismus, den eine kleptokratische Oligarchie kontrolliert, hat nur noch eine kurze Halbwertzeit. Der anstehende Epochenumbruch wird Russland besonders schwer treffen, sollten die vor dem Krieg geflüchteten Spitzenkräfte in Wirtschaft und Wissenschaft nicht mehr zurückkehren. Ob die russische Wirtschaft den durch den Angriffskrieg entstandenen schweren Schaden in zehn Jahren schon überwunden haben wird, bleibt fraglich. Wichtig wäre es für Russland, die verschleppte ökologisch-technologische Modernisierung endlich anzugehen und den Aufbruch aus dem fossilen Zeitalter ins 21. Jahrhundert zu wagen. /

(Dieses Interview erschien in der WNA-Ausgabe 2+3/2023.)

Vita

Klaus Gestwa, geboren 1963, ist seit 2009 Professor für Osteuropäische Geschichte und Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen.

Gestwa hat in Marburg studiert. Er promovierte zum Thema „Proto-Industrialisierung in Russland: Wirtschaft, Herrschaft und Kultur in Ivanovo und Pavlovo, 1741–1932“.

Seine Habilitation schrieb er zum Thema „Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus: Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967“.

Gestwa hat mehrere Bücher sowie mehr als hundert Fachartikel über Russland und die Sowjetunion veröffentlicht.