Bildungsrevolution von unten: Schülerinnen und Schüler nutzen KI-Tools bereits ganz selbstverständlich. Nun müssen die Erwachsenen nachziehen. Es sei höchste Zeit, dass künstliche Intelligenz sinnvoll im Unterricht eingesetzt werde, meint die Tübinger Bildungsforscherin Ulrike Cress.
WNA: Kaum war Chat GPT auf dem Markt, wurde es auch schon von Schülerinnen und Schülern genutzt. Können KI-Tools die Bildung bereichern?
Cress: Es ist gleichzeitig Chance und Problem, dass Chat GPT sehr viel kann – oder scheinbar kann. Schüler können sich Dinge einfacher erklären oder Feedback geben lassen. Die KI übernimmt also Aufgaben, für die es sonst eine Lehrkraft braucht. Das ist eine große Chance, die Schulen nutzen sollten. Damit Schülerinnen und Schüler Large Language Models (LLMs) wie Chat GPT aber sinnvoll einsetzen können, brauchen sie die Kompetenz, die richtigen Fragen zu stellen und die richtigen Prompts – also Anweisungen an die KI – zu formulieren. Diese Fähigkeiten müssen in der Schule vermittelt werden.
Wo sehen Sie die Gefahren?
Chat GPT ist nicht immer ein guter Ratgeber. Es ist bekannt, dass die KI regelmäßig halluziniert und Dinge erfindet. Schülern muss also klar sein, dass sie sehr viel hinterfragen müssen. KI-Tools wie Chat GPT basieren eigentlich nur auf einer Wahrscheinlichkeitsrechnung: Welches Wort wird höchstwahrscheinlich auf das Wort zuvor folgen? Das ist der Unterschied zur Google-Suche, die Texte findet, die es bereits gibt und bei denen die Quellen nachvollziehbar sind und auf Glaubwürdigkeit geprüft werden können. Schwierig sind auch die Verzerrungen, die die Maschine produziert. Ein Beispiel: Man lässt sich mittels KI Bilder für die englischen Begriffe „Nurse“ und „Doctor“ erzeugen. Dann erhält man Bilder einer Krankenschwester und eines Arztes, obwohl beide Begriffe für beide Geschlechter gelten. LLMs reproduzieren die Daten, mit denen sie gefüttert wurden – und damit auch Stereotype und Vorurteile.
Chat GPT darf das Denken nicht ersetzen, es muss das Denken anregen
Ulrike Cress
Nehmen Schülerinnen und Schüler derzeit noch alles für bare Münze, was die KI ausspuckt?
Ich befürchte, das ist so. Weil die KI so perfekt formuliert, traut man ihr auch viel zu. Wer wenig Inhaltswissen hat, kann die Qualität des Outputs einer KI nur schwer bewerten. Es gibt auch die Befürchtung, dass Menschen Fähigkeiten verlieren, wenn sie Aktivitäten an die KI auslagern. Es bringt nichts, wenn Schüler sich die Hausaufgaben von der KI schreiben lassen. Chat GPT darf das Denken nicht ersetzen, es muss das Denken anregen. Es ist eine pädagogische Aufgabe, entsprechende Aufgaben zu stellen.
Als Mitglied der wissenschaftlichen Kommission beraten Sie die Kultusministerkonferenz. Welche Maßnahmen würden Sie direkt umsetzen, hätten Sie freie Hand?
In unserem jüngsten Papier fordern wir, Large Language Models im Unterricht einzusetzen. Wir brauchen einen freien Zugang zu Software – und zwar in einem geschützten, datenschutzrechtlich sicheren Raum. Wir brauchen Konzepte, wie KI-Tools im Fachunterricht von den Lehrkräften genutzt werden können. Und dann brauchen wir Lehrerfortbildungen. Lehrkräfte müssen wissen, was KI-Tools für ihr Fach leisten können und was nicht. Wir müssen in die Pötte kommen. Die Entwicklung ist rasend schnell – die Schulen müssen mitziehen. Wir können nicht so tun, als ob es diese Tools nicht gäbe.
Wie wahrscheinlich ist die Umsetzung Ihrer Forderungen?
Der Anfang ist gemacht. Die Lehrkräfte sind sehr interessiert an den Fortbildungen. Bis es evidenzbasierte Konzepte für den KI-Einsatz im Unterricht gibt, wird es aber länger dauern. Wir müssen uns eines vor Augen führen: LMMs sind Tools, die sprachlich gut interagieren können. Sie kommen aber nicht an Lerntools heran, die speziell fürs Lernen konzipiert sind.
Sollten sich Bildungspolitiker dafür einsetzen, dass für Schulen eigene KI-Sprachmodelle entwickelt werden?
Unbedingt! Wir benötigen eine geschützte Umgebung, in der nicht jede Eingabe in die KI von den KI-Unternehmen zu Trainingszwecken genutzt wird. Und wir brauchen eine Software, in der die Datengrundlage gesichert ist und das angesprochene Bias-Problem minimiert wird. Zudem sollte das Tool die Erkenntnisse der Lernforschung berücksichtigen und auf den Lernstand des Schülers eingehen können. Der nächste Schritt wäre eine Software, die sogenannte kognitive Tutoren mit Sprachmodellen verknüpft. Hier brauchen wir offene Modelle, keine kommerziellen.
Ab welcher Klasse ist der Einsatz von digitalen Tools im Unterricht überhaupt sinnvoll?
Da ist immer die Frage, wofür und wie man digitale Elemente einsetzt. Wir in der Kommission sagen, dass auch im Vorschulalter digitale Medien eine Rolle spielen sollten, weil sie in der Lebenswirklichkeit der Kinder vorkommen. Chat GPT zum Beispiel sollte man aber erst einsetzen, wenn die Kinder selbstständig einen ordentlichen Text schreiben können. Und ganz wichtig: Die Tools sollen bilden, nicht unterhalten. Insgesamt muss man aber auch sagen: Wenn es um digitale Bildung geht, liegen wir im internationalen Vergleich sehr weit hinten. Sowohl was die Kompetenzen der Schüler und Lehrkräfte angeht, als auch, was die Ausstattung angeht. Deutschland hat sehr spät begonnen, digitale Bildung als Chance zu begreifen.
Welche digitalen Kompetenzem benötigen Schüler?
Sie sollten wissen, was ein Computer kann, sie sollten Office-Anwendungen bedienen und Mails schreiben können – was zunächst trivial klingt. Die Realität ist aber: Wenn in einem Text ein Link nicht angeklickt werden kann, ist über ein Drittel der 15-Jährigen nicht in der Lage, ihn zu kopieren und in ein neues Browserfenster einzufügen. Ihre Kompetenz, mit digitalen Tools so umzugehen, dass sie zur Informationssuche sinnvoll sind, ist überraschend gering. Das ist ein Drama. Unsere Kinder sind einer hoch technologisierten Welt ausgesetzt. Auf sie prasseln viele Informationen ein und sie haben zu geringe Kompetenzen, um diese angemessen zu bewerten.
Was müssen Schülerinnen und Schüler heute noch wissen?
Sie müssen zum Beispiel wissen, wie man Suchmaschinen richtig nutzt: Sie müssen lernen, nicht nur den ersten Treffer zu verwenden sowie Quellen zu bewerten. Die Schüler sollten unterscheiden können: Was ist Werbung, was ist Nachricht? Warum erhalte ich einen anderen Feed auf Social Media als meine Mitschüler? Das sind Fähigkeiten, die wir dringend brauchen – auch für das Überleben unserer demokratischen Gesellschaft.
KI wird den beruflichen Alltag enorm umstellen
Ulrike Cress
Wir wird sich KI auf Ausbildung und berufliche Bildung auswirken?
KI wird den beruflichen Alltag enorm umstellen. Wir werden zum Beispiel nicht mehr selbst programmieren und Standardtätigkeiten werden wegfallen. Wir müssen lernen, mit den Tools effektiv zu arbeiten – was wir „versierte Koaktivität“ nennen. Klar ist: Die Anforderungen an die Nutzer von KI-Tools werden steigen. Wir müssen die jungen Leute auf diese schwierigen Tätigkeiten in der Ausbildung besser vorbereiten. Gleichzeitig dürfen wir als Gesellschaft aber auch die weniger Qualifizierten nicht vergessen. Das ist nicht trivial.
Sie haben für Ihre Arbeit kürzlich den Landesverdienstorden erhalten. Ist das für Sie ein Zeichen, dass das Thema „Digitale Medien und KI in der Bildung“ von der Politik ernster genommen wird als bislang?
Das Bewusstsein in der Politik ist groß. Die Wissenschaft wird mehr angefragt, um die Probleme besser anzugehen. Bildung hat eine riesige Auswirkung darauf, ob die nächste Generation berufs- und denkfähig ist. Gesellschaftlich gibt es derzeit viel Dynamik. Große Themen wie Digitalisierung und Migration kumulieren in der Bildung. Damit ist das System schnell überfordert. Wir brauchen Ansätze, die unser Bildungssystem fitter machen. Wir haben rund 600.000 Lehrkräfte in Deutschland. Das ist ein riesiges System, das man nicht in einem Jahr verändern kann.
Kann künstliche Intelligenz Bildung besser machen?
Die Digitalität gibt uns viele Möglichkeiten. Wir müssen sie nur nutzen. Sie kann Bildung individueller, kreativer, interessanter, kollaborativer machen. Ich finde es faszinierend, dass digitale Bildung unser Denken erweitern und vertiefen, die Perspektive weiten kann. Durch Large Language Models können wir mit Büchern sprechen! Wir können mit der gesamten Wissensbasis, die die Menschheit hat, interagieren. Wir müssen es schaffen, dass es um Inhalte und um die Bewertung von Tools geht. „Daumen hoch, Daumen runter“ – das Prinzip vieler sozialer Medien ist nicht genug. Wir brauchen eine echte inhaltliche Auseinandersetzung mit Themen. KI kann helfen, unterschiedliche Positionen sichtbar zu machen und und neue Perspektiven einzunehmen. Insofern: Ja, KI hat das Potenzial, die Bildung zu verbessern. /
(Dieses Interview erschien in der WNA-Ausgabe 6+7/2024.)
Vita
Prof. Dr. Ulrike Cress wurde 1965 in Mundingen geboren.
Sie studierte Psychologie, promovierte und habilierte sich im Anschluss an der Eberhard Karls Universität Tübingen.
Seit 2008 ist sie Professorin an der Uni Tübingen und seit 2017 Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien.
Cress engagiert sich in zahlreichen Ämtern, im Vorstand der Deutschen Telekom Stiftung, in der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz, bei der Deutschen Unesco-Kommission und im Wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Literaturarchivs Marbach.