Zukunftsforscherin Prof. Dr. Elizabeth Hofvenschiöld

„Die eine verlässliche Prognose gibt es nicht“

Die Welt verändert sich rasant. Wer verlässliche Vorhersagen über künftige Entwicklungen treffen will, muss mit vielen Unwägbarkeiten kämpfen. Können wir uns überhaupt auf das Unvorhersehbare vorbereiten? Ein Gespräch mit der Reutlinger Zukunftsforscherin Prof. Dr. Elizabeth Hofvenschiöld über Planungssicherheit, Kurskorrekturen und die aktive Gestaltung der Zukunft.

Porträtfoto von Elizabeth HofvenschiöldFür ihre Lehrveranstaltung „Future Thinking“ wurde Elizabeth Hofvenschiöld mit dem Lehrpreis für Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Zudem setzt sie sich für „Zukunfts-Alphabetismus“ (Future Literacy) ein: Jeder Mensch soll in der Lage sein, sich besser auf die Zukunft vorzubereiten. Foto: PR

WNA: Frau Hofvenschiöld, fangen wir mal ganz einfach an: Was ist Zukunftsforschung eigentlich?
Hofvenschiöld: Zukunftsforschung ist das Gegenteil von Geschichte. In der Geschichte beschäftigen wir uns mit der Vergangenheit. Die Zukunftsforschung ist dagegen die Erforschung von dem, was in der Zukunft passieren könnte. Aber wir Zukunftsforscher sind keine Hellseher! Wir sagen nicht „Dieses oder jenes wird im Jahr X passieren“, sondern wir entwickeln Szenarien, die in der Zukunft eintreten könnten. Wir gehen dabei streng wissenschaftlich vor und arbeiten auf der Grundlage von Daten, Trends, Expertenwissen, politischem Wandel oder Soziografien.

Zukunftsforschung ist also mehr als Science-Fiction? 
Manchmal sind die Übergänge tatsächlich fließend. Da die meisten Menschen Probleme haben, sich die Zukunft vorzustellen, greifen manche Forscher auf Science-Fiction-Erklärungen zurück. Wenn wir uns etwa Reutlingen in zehn Jahren vorstellen sollen, hat kaum jemand ein konkretes Bild im Kopf. Wenn wir 20 oder 30 Jahre vorausschauen sollen, wird unsere Vorstellung noch diffuser. Science-Fiction kann dann helfen, eine Skizze zu entwerfen. Aber die Zukunftsforschung selbst hat wenig mit Science-Fiction zu tun. Sie basiert auf messbaren Daten, Entwicklungen und Vorstellungskraft.

Niemand ist der Zukunft machtlos ausgesetzt

Elizabeth Hofvenschiöld

An wen richtet sich Ihre Forschung?
An jeden: an den einzelnen Bürger ebenso wie an Unternehmen und Politiker oder die Gesellschaft als Ganzes. Uns Zukunftsforschern geht es darum, festzustellen, was man jetzt tun kann, um auf mögliche Zukunftsszenarien vorbereitet zu sein. Davon kann jeder profitieren. Wir wollen mit unserer Forschung zeigen, dass niemand der Zukunft machtlos ausgesetzt ist. Wir können die Zukunft aktiv mitgestalten. Wir können Dinge in unserer Region, unserer Stadt und unserem Alltag ändern. Auch die globale Welt können wir prinzipiell beeinflussen. Zwar nicht allein, aber als Gruppe.

Wie entwickeln Sie Ihre Zukunftsszenarien?
Dafür gibt es Hunderte Methoden, die unterschiedliche Vor- und Nachteile haben. Jede Methode baut ein Zukunftsszenario anders auf. Aber alle Methoden haben das gleiche Grundprinzip: Man erarbeitet aus einer Vielzahl an Informationen verschiedene mögliche Entwicklungen für die Zukunft. Ein Klassiker ist das „Zwei-mal-zwei-Szenario“, bei dem zwei Annahmen miteinander verglichen werden. Aus dem „Worst case“ und dem „Best case“ jeder Annahme entstehen in Kombination vier Möglichkeiten. Und dann fragt man sich, wie gut man auf sie jeweils vorbereitet ist und wie man sie beeinflussen kann. Mithilfe der Szenarien kann man sich in der Gegenwart auf die Zukunft vorbereiten – und damit auch potenzielle Schäden dank langfristig gedachter Planung abwenden.

Verändert KI die Zukunftsforschung?
Künstliche Intelligenz bietet hilfreiche Werkzeuge, um große Datenmengen zu analysieren und schneller mit ihnen arbeiten zu können. Generative KI, also ein Tool wie etwas Chat GPT, eignet sich dafür allerdings ausdrücklich nicht! Bei Chat GPT kann man nicht nachvollziehen, aus welchen Quellen die verwendeten Daten stammen und wie sie von der KI gewichtet werden. 

Nahaufnahme einer leuchtenden GlaskugelKeine Hellseherei: Zukunftsforschung basiert auf der wissenschaftlichen Analyse von Daten. Glaskugeln kommen dabei nicht zum Einsatz. Foto: nullplus - stock.adobe.com

Eine Zielgruppe Ihrer Forschung sind Unternehmen. Wie können sich Betriebe auf die Zukunft vorbereiten? 
Sie müssen sich angewöhnen, in verschiedenen Szenarien zu denken, und dürfen nicht in normativer Zukunftsplanung verharren. Oft haben Betriebe nur ein mögliches Zukunftsszenario vor Augen – quasi eine einzige Linie, die von der Gegenwart in die Zukunft verläuft. Die Wahrscheinlichkeit, dass genau dieses Zukunftsszenario eintritt, ist jedoch sehr gering. Unternehmen werden flexibler und resilienter, wenn sie sich mehrere Linien vorstellen. Dann können sie sich gezielt darauf vorbereiten, was sie machen würden, wenn eine der Möglichkeiten Realität wird.

Wie können Unternehmen die Grundlage für dieses Vorgehen schaffen? 
Besonders wichtig ist, dass im Unternehmen alle zusammenarbeiten. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter sollte ein Gespür für Trends entwickeln und die Möglichkeit haben, ihre oder seine Beobachtungen der Entscheidungsebene mitzuteilen. Diese kann dann von einer kollektiven „Zukunftsintelligenz“ im Unternehmen profitieren und bessere Entscheidungen treffen.

Es treten immer wieder unvorhergesehene Ereignisse auf. Denken wir etwa nur an die Corona-Pandemie. Sind Sie von solchen Entwicklungen überhaupt noch überrascht?
Als Zukunftsforscher schwimmt man in den Trends. Und dann überrascht einen die Welt tatsächlich gar nicht mehr so oft. Man bekommt mit der Zeit ein Gefühl für die Geschwindigkeit der Trends und ist dann fast etwas abgeklärt: „Schade, jetzt ist also Szenario C eingetreten.“ Wir gehen sowieso bei jeder unserer Prognosen davon aus, dass die Dinge im Fluss sind. Die eine verlässliche Prognose gibt es nicht. Die Zukunft wird von unzähligen Variablen beeinflusst. Viele Unternehmen in Deutschland gehen zum Beispiel davon aus, dass sie Entwicklungen wie dem Klimawandel ausgeliefert sind und sich sowieso nicht darauf vorbereiten können. Aber das stimmt nicht. Wer flexibel ist und bleibt, kann sich auf vieles vorbereiten. Ich denke, für die Betriebe in der Region Neckar-Alb, die für ihren Entwickler- und Ingenieursgeist bekannt ist, gilt dies in besonderem Maße.

Man braucht nicht nur einen Plan B, sondern auch die Pläne C bis F

Elizabeth Hofvenschiöld

Sie sagen, dass es nicht die ei-ne verlässliche Prognose gibt. Gibt es dann überhaupt noch Planungssicherheit?
Es gibt Planungssicherheit, aber nicht für fünf oder zehn Jahre, sondern eher für sechs Monate. Wir haben immer Ungewissheiten. Dinge ändern sich permanent. Das Vorgehen, sich einen Plan für die Zukunft zu erstellen und diesen sklavisch einzuhalten, ist zum Scheitern verurteilt. Man muss seinen Plan immer wieder anpassen. Man braucht nicht nur einen Plan B, sondern auch die Pläne C bis F. Wichtig ist, dass man sein Ziel nicht aus den Augen verliert. Und man muss sich klarmachen, dass es kein Scheitern ist, wenn man seinen Plan anpasst.

Welche Megatrends werden uns in der nahen Zukunft beschäftigen?
Die immer stärkere Polarisierung der Gesellschaft und die immer weiter voranschreitende Klimakrise. Gleichzeitig verändern die USA durch die von den Republikanern geführte Regierung ihre Rolle in der Welt. Wir wissen noch nicht, welche Folgen das haben wird. Andere Länder könnten auf der globalen Bühne künftig eine größere Rolle spielen, etwa die Länder im globalen Süden. Ich vermute, dass in den nächsten Jahren viele Innovationen aus Südamerika, Afrika und Asien kommen werden.

Kürzlich hat Baden-Württemberg seine neueste Jugendstudie veröffentlicht. Demnach nehmen die Sorgen und Zukunftsängste der Jugendlichen seit der Corona-Zeit stark zu. Können Sie den Jugendlichen die Angst vor der Zukunft etwas nehmen?
Mich überraschen die Ergebnisse dieser oder ähnlicher Studien nicht. Durch die sozialen Medien nehmen wir jeden Tag, oft auch ganz unbewusst, eine Unmenge an Nachrichten auf. Die meisten davon sind sehr negativ. Das verändert unser Gehirn, unsere Laune und unser Verhalten. Wir gehen automatisch von einer schlechten Zukunft aus. Dabei lässt sich die Zukunft formen. Wir können in der Gegenwart etwas tun, was unsere Zukunft verbessert. Es ist nicht leicht, aber manchmal muss man sich bewusst auf das Positive in der Gegenwart fokussieren, damit man sich eine bessere Zukunft vorstellen kann. Meine Hoffnung ist, dass wir Zukunftsforscher den Menschen und vor allem den Jugendlichen vermitteln können,  dass sie etwas bewegen können. Und: Man muss kein Zukunftsforscher sein, um sich auf die Zukunft vorzubereiten und seine eigene Zukunft zu gestalten. Das kann jeder. /

(Dieses Interview erschien in der WNA-Ausgabe 6+7/2025.)

Vita

Elizabeth Hofvenschiöld wurde 1975 in Quezon City auf den Philippinen geboren.

Sie schloss 1997 ein Masterstudium in Bio-Archäologie und 2001 ein Masterstudium in Human-Computer-Interaction an der University of London ab.

Anschließend arbeitete sie unter anderem am Fraunhofer-Institut, bei Vodafone sowie bei der Daimler AG.

Von 2016 bis 2021 promovierte sie berufsbegleitend im Fach Future Studies an der University of the West of Scotland.

Seit September 2022 ist sie Professorin für Zukunftsforschung und Strategisches Management an der ESB Business School in Reutlingen.