Kriegs- und Krisenreporter Ibrahim Naber

„Die Menschen wollen erzählen“

Ibrahim Naber ist als Chefreporter der „Welt“ regelmäßig in Kriegs- und Krisengebieten unterwegs, etwa in der Ukraine. Im Interview spricht der gebürtige Tübinger über die Arbeit an der Front, seinen Antrieb – und über die Rolle der sozialen Medien bei der Kriegsführung. 

Porträtfoto von Ibrahim NaberIbrahim Naber arbeitet bereits seit 19 Jahren als Journalist Foto: PR

WNA: Herr Naber, Sie arbeiten freiwillig an Orten, von denen andere fliehen. Welche Eigenschaften muss man dafür mitbringen?
Naber: Man muss mit Druck, extremen Situationen und starken Emotionen umgehen können. Mein Team und ich haben bei manchen Fronteinsätzen keine Garantie, unbeschadet zurückzukommen, und viele Erlebnisse wirken noch lange nach. Aber wer als Journalist verstehen will, was Krieg wirklich bedeutet und was die Soldaten an der Front denken, muss sich diesen Extremsituationen stellen. Die ehrlichsten Antworten auf meine  Fragen habe ich oft dort bekommen, wo die Gefahr am größten war.

Was treibt Sie an, immer weiterzumachen?
Ich will nach drei Jahren Ukraine-Krieg wissen, wie es mit dem Land weitergeht. Was mit den Menschen passiert, die ihre Heimat verlieren könnten, wie es den Soldaten ergeht, die ich vor Ort kennengelernt habe, und was der radikale Kurswechsel durch US-Präsident Donald Trump verändert. Als Reporter erlebe ich in Frontgebieten oft, dass sich die Menschen über die Ablenkung oder Abwechslung durch unser Erscheinen freuen. Einige sind erst mal vorsichtig, wenn sie dich nicht kennen. Aber sie wollen über ihre Erlebnisse sprechen, sie wollen davon erzählen. Das gibt mir unheimlich viel zurück. Ich finde meinen Job nicht wegen der potenziellen Gefahr spannend, sondern wegen der Menschen und ihren Geschichten. Und es ist ein Job, bei dem ich mich noch keinen Tag gefragt habe, warum ich ihn eigentlich mache.

Die ehrlichsten Antworten habe ich oft dort bekommen, wo die Gefahr am größten war

Ibrahim Naber

Was hat Sie dazu bewegt, Journalist zu werden?
Meine Mutter ist Journalistin, das hat mich natürlich geprägt. Angefangen habe ich schon während der Schulzeit als Sportreporter beim Schwäbischen Tagblatt in Tübingen. Mich hat aber immer mehr interessiert, was hinter den Kulissen passiert – also der investigative Journalismus. Ich habe damals zu Manipulationen bei Sportwetten, Doping und dem Geschäft mit jungen Talenten im Fußball recherchiert. Später habe ich das mehrere Jahre für das ZDF gemacht. Nach meiner Ausbildung an der Axel-Springer-Akademie in Berlin bin ich dann bei „Welt“ gelandet, im Investigativteam. Ich habe viel im Ausland recherchiert, aber nicht in Kriegsgebieten – bis zu Russlands Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022.

Wie kommt man überhaupt an die Front?
Grundsätzlich ist es als westlicher Reporter möglich, an der Front zu arbeiten. Man bekommt eine Akkreditierung mit Sonderrechten, darf zum Beispiel außerhalb der Sperrstunden unterwegs sein. Anfangs begleitet man oft Einheiten in Anwesenheit eines Presseoffiziers, aber es läuft auch viel über persönliche Kontakte. Wenn man eine Einheit schon kennt, kann man direkt vereinbaren, dass man sie besucht. Das gibt einem manchmal einen ganz anderen Zugang zur Front.

Was nehmen Sie mit auf einen Einsatz? 
Wir sind meistens fast einen Monat vor Ort. Eine Grundausstattung ist immer dabei: Schutzausrüstung, Gasmasken, Wasser, Notstrom und Equipment, mit dem wir von fast überall live senden können. 
 

Ibrahim Naber mit seinem Kameramann bei einem Reportereinsatz in der UkraineAlltag eines Kriegsreporters: Ibrahim Naber (Mitte) im Gespräch mit einem ukrainischen Drohnenpiloten. Foto: PR

Wie sieht Ihre Vorbereitung auf einen Einsatz aus?
Natürlich trainiert man vorher einige Dinge wie das Verhalten unter Beschuss, aber das kann einen nicht komplett auf die Realität an der Front vorbereiten. Als ich 2023 ein Drohnenteam in der damaligen Frontstadt Bachmut begleitet habe, hat sich das irreal angefühlt. Wie in einem Film. Der Beschuss inmitten dieser Geisterstadt, zwischen all den Ruinen. Manchmal realisiere ich erst nach unseren Einsätzen, wie gefährlich bestimmte Situationen gewesen sind.

Wird man mit der Zeit abgeklärter? 
Mittlerweile weiß ich immer mehr, wie der Krieg funktioniert und wo Gefahren lauern, bin deswegen auch in bestimmten Situationen vorsichtiger, als ich es zu Beginn war. Die Drohnen sind zum Beispiel zu einer so großen Gefahr geworden, dass sie die Bewegung in Frontgebieten massiv einschränken. Aber man stumpft über die Zeit auch emotional ab, geht anders mit den Situationen um. Die Angst und der Respekt vor dem Krieg bleiben.

Worauf müssen Sie bei Ihrer Arbeit besonders achten?
Die Antwort auf diese Frage ist komplex. Wenn wir Soldaten in ihrem Versteck filmen, müssen wir darauf achten, ihre Position nicht preiszugeben. Auch Aufnahmen von Waffengattungen müssen geheim bleiben. Ein unachtsam veröffentlichtes Bild kann zum Tod von Menschen führen oder dafür sorgen, dass sie in Gefahr geraten. Neben den Sicherheitsmaßnahmen müssen aber auch die Menschen respektiert werden: Manche Soldaten wollen nicht ihren vollen Namen preisgeben oder ihr Gesicht nicht zeigen. Vielleicht, weil sie Verwandte in russisch-besetztem Gebiet oder im Ausland haben oder Teil des Geheimdienstes sind. Aber wenn man die Regeln kennt, sind sie leicht einzuhalten.
 

Neben dem Kampf auf dem Schlachtfeld gibt es den Kampf um den Informationsraum

Ibrahim Naber

Wird die Berichterstattung dadurch beeinflusst?
Es wurde uns noch nie verboten, etwas auszustrahlen – solange die Sicherheit der Soldaten gewährleistet ist. Wir würden auch niemals zulassen, dass in unsere Berichterstattung inhaltlich eingegriffen wird. Das wäre eine absolute Grenzüberschreitung. Aber unsere Reportagen sollen keine Menschen gefährden.

Wie bleibt man objektiv? 
Unsere Berichterstattung ist in dem Sinne einseitig, dass wir nur aus den ukrainisch kontrollierten Gebieten berichten können, aber das heißt nicht, dass wir die kritischen Dinge weglassen. Ich habe zu Korruption in der Ukraine, zu den großen Problemen bei der Mobilisierung und zu gescheiterten Offensiven recherchiert. Gleichzeitig gab es in diesem Krieg von russischer Seite so viele Dinge, die eine Eskalation darstellen: die Sprengung des Kachowka-Staudamms, die Massaker von Butscha, die russischen Folterkammern. Die ganz klaren Kriegsverbrechen. All das ist Fakt, das ist passiert. Das sehen und erleben wir vor Ort. Und darüber berichten wir, wir bauschen nichts auf. Wir lassen die Bilder für sich sprechen.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien?
Soziale Plattformen sind in diesem Krieg für beide Seiten enorm wichtig. Neben dem Kampf auf dem Schlachtfeld gibt es auch den Kampf um den Informationsraum. Auch dort entscheidet sich, wer den Krieg gewinnt. Etwa wenn russische Akteure versuchen, die Entstehung ihrer Invasion umzuschreiben, und den Angriff als vermeintliche Notwehr darstellen.

Abgesehen von der Ukraine: In welchen Kriegs- und Krisengebieten waren Sie schon im Einsatz?
Ich war viel im Nahen und Mittleren Osten unterwegs, kürzlich erst wieder im Libanon, habe aber auch über Krisen in Deutschland berichtet. Derzeit ist die Ukraine mein Schwerpunkt. Sobald es irgendwo außergewöhnliche Ereignisse gibt, versuchen wir mit Reportern vor Ort zu sein.

Was würden Sie dem journalistischen Nachwuchs raten?
Wir brauchen Reporter, die für den Job brennen. Es bleibt enorm wichtig, vor Ort zu sein, zuzuhören und den persönlichen Kontakt zu suchen. Auch im Lokaljournalismus. Diese Dinge gewinnen sogar an Bedeutung. Das lässt sich nicht so einfach durch künstliche Intelligenz ersetzen. Aber man muss gerade als Kriegs- und Krisenreporter auch bereit sein, Stress, Überstunden und Nachtschichten in Kauf zu nehmen.

Wie startet man am besten in den Journalismus?
Einfach machen. Beim Journalismus ist es nicht so wichtig, dass man jahrelang etwas studiert hat oder akademisch dafür ausgebildet ist. Man kann auch schon während der Schule oder dem Studium einen Tiktok-Kanal aufbauen, einen Podcast starten oder ganz klassisch für Zeitungen oder Radio arbeiten. Journalismus ist bis zu einem gewissen Punkt ein Handwerk. Es braucht Übung, daraus entsteht Routine. Wer in den Beruf will, sollte sich nicht von denen entmutigen lassen, die den Journalismus totsagen. Im Gegenteil – er hat eine fantastische Zukunft und wird immer relevanter.

Warum?
Desinformation ist eine der größten Gefahren für liberale Demokratien geworden – und KI wird das Problem noch verschärfen. Wir brauchen ausgebildete Journalisten, die Fakten verifizieren und einordnen können. Russland führt weiterhin Krieg in Europa, mit der realen Gefahr, dass er sich auf andere Staaten ausweitet. Gleichzeitig erleben wir einen Bruch im transatlantischen Verhältnis. Mehr denn je brauchen wir Reporter, die vor Ort sind – überall dort, wo sich die Zukunft Deutschlands entscheidet. /

(Dieses Interview erschien in der WNA-Ausgabe 4+5/2025.)

Vita

Ibrahim Naber wurde 1991 in Tübingen geboren. Mit 16 Jahren begann er, als Reporter für das Schwäbische Tagblatt zu arbeiten.

Von 2015 bis 2017 absolvierte er eine crossmediale Redakteursausbildung an der Axel-Springer-Akademie in Berlin.

Seit April 2022 ist Ibrahim Naber Chefreporter bei „Welt“ und arbeitet sowohl für den TV-Sender als auch die Tageszeitung des Medienhauses.

Daneben studiert er „International Relations and War“ am King’s College in London. Im Sommer wird er das Masterstudium abschließen.