Jugendsuchtforscherin Dr. Isabel Brandhorst

„Gesunder Medienkonsum bereichert“

Smartphones, Tablets, Computer: Noch nie konnten wir Medien so intensiv nutzen wie heute. Das birgt auch Gefahren, vor allem für Jugendliche. Jugendsuchtforscherin Dr. Isabel Brandhorst spricht im Interview über gesunden und problematischen Medienkonsum sowie die Vorbildfunktion des Umfeldes – und sie erklärt, wie man eine Sucht erkennen kann.

Isabel BrandhorstDr. Isabel Brandhorst arbeitet seit zwölf Jahren am Universitätsklinikum Tübingen als Therapeutin für Kinder und Jugendliche. Foto: PR

WNA: Frau Dr. Brandhorst, ab welchem Punkt beginnt eine Smartphone-Sucht?
Brandhorst: Smartphone-Sucht gibt es nicht, weil das Smartphone nur ein Gefäß ist. Das ist wie bei der Alkoholabhängigkeit, bei der man ja auch nicht von der Flasche abhängig ist, sondern von ihrem Inhalt. Wer beispielsweise nur langweilige Apps auf seinem Smartphone hat, wird davon auch nicht abhängig werden.

Was sind dann Kriterien für eine Mediensucht?
Bei Internetnutzungsstörungen wie der Social-Media- oder der Computerspielsucht gibt es drei Kriterien. Zunächst den Kontroll-verlust: Man kann also nicht mehr kontrollieren, wann, wie häufig, wie lange oder wo man mit dem Medium interagiert. Das zweite Kriterium ist die Priorisierung, das heißt, das Medium wird immer wichtiger als andere Dinge im Leben. Das letzte Kriterium sind anhaltende negative Konsequenzen: regelmäßiger Schlafmangel, Unkonzentriertheit, Nachlassen der Leistungsfähigkeit, Zerbrechen von Freundschaften, gesundheitliche Schäden oder dauerhafte Familienkonflikte. Wenn diese drei Kriterien episodisch wiederkehren oder kontinuierlich über zwölf Monate bestehen, dann spricht man von einer Sucht.

Selbst wenn man Social Media nur wenige Stunden in der Woche nutzt, kann das schon ungesund sein

Dr. Isabel Brandhorst

Können süchtige Jugendliche langfristige Schäden davontragen?
Die sozialen Medien spielen viel mit Rollenvorstellungen, mit Körperbildern, mit Schönheitsidealen. Das kann einen langfristigen Einfluss auf Selbstwert und Körperwahrnehmung haben. Beim Spielen am Computer sind es aber am ehesten Haltungsprobleme und Probleme mit dem Handgelenk. Manche Süchtige verlieren den Ausbildungsplatz, ziehen sich über Jahre hinweg zurück. Dann ist es echt schwer, sich wieder in die Gesellschaft zurückzuarbeiten. Es ist aber machbar. Man braucht nur einen langen Atem und Mut, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die man in den Jahren zuvor vermieden hat.

Was ist ein gesunder Medienkonsum?
Ein gesunder Medienkonsum ist der, der mein Leben bereichert und ihm nicht schadet. Es kann durchaus sein, dass auch bei längerer Nutzung keine negativen Konsequenzen entstehen, aber wenn die Balance in die falsche Richtung kippt, dann ist es pro-blematisch. Selbst wenn man Social Media nur wenige Stunden in der Woche nutzt, kann das schon ungesund sein.

Wie kann man sich eine Suchttherapie vorstellen?
Wir arbeiten mit der kognitiven Verhaltenstherapie, vor allem mit der motivierenden Gesprächsführung. Die wenigsten kommen mit der klaren Haltung, dass sie süchtig sind und Hilfe brauchen. Viel öfter heißt es: „Vermutlich bin ich vielleicht irgendwie ein bisschen süchtig.“ Hier gibt es oft eine große Ambivalenz. Bei  der Bekämpfung einer Sucht ist der Motivationsaufbau die halbe Miete. Deshalb versuchen wir bei jedem Patienten, die positiven und negativen Konsequenzen herauszuarbeiten. Welche Bedürfnisse werden durch die Mediennutzung erfüllt und wie können wir diese anders erfüllen? Dabei ist es besonders wichtig, dass die Jugendlichen die Motivation für ihre Verhaltensänderungen im Alltag finden. Das werden sie nicht schaffen, wenn sie das Ziel ihrer Eltern oder Therapeuten verfolgen. Es muss das eigene Ziel sein. 

Mehrere Jugendliche blicken auf ihre SmartphonesFast ein Viertel aller Jugendlichen in Deutschland zählt laut dem Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) zur Mediensucht-Risikogruppe. Jungen sind für eine Computerspielsucht zweimal so anfällig wie Mädchen. Bei Social-Media-Süchten gibt es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede. Mehr als jeder zweite mediensüchtige Jugendliche leidet an Depressionen oder Angststörungen. Besonders anfällig sind Jugendliche mit ADHS. Foto: DavideAngelini/shutterstock.com

Wie kann man sich vor einer Sucht schützen?
Wer eine stressige Phase hat, hat ein höheres Risiko, sich in Gaming oder Social Media zu verlieren. Statt Bildschirmzeit zu 
sammeln, sollte man sich mit Freunden treffen, Sport machen, sich gut ernähren, draußen sein. Gut für sich selbst sorgen und das wichtiger nehmen als Zerstreuung und Ablenkung. Wenn man trotzdem am Handy sein möchte, sollte man sich Nutzungszeiten vornehmen und diese natürlich auch einhalten.

Was können Ausbilderinnen und Ausbilder tun, wenn sie bemerken, dass Azubis immer wieder am Handy sind?
Wenn Ausbilder bemerken, dass Azubis oft übermüdet und unkonzentriert sind, vielleicht die Nacht verzockt oder verscrollt haben, dürfen sie durchaus eingreifen. Wenn man einen guten Draht zu den Auszubildenden hat, dann ist aus meiner Sicht das persönliche Gespräch am besten. Man sollte offen reingehen, die Beobachtung schildern, ohne zu bewerten: „Mein Eindruck ist, dass du während der Arbeit immer wieder aufs Handy schaust. Wie siehst du das?“ Und dann genau zuhören, was das Gegenüber einem sagt. Es muss ja nicht sein, dass die Person immer auf Social Media ist, vielleicht muss sie wegen eines familiären Problems erreichbar sein. Nicht direkt zu verurteilen, ist ein wichtiger Türöffner.

 Nicht direkt zu verurteilen, ist ein wichtiger Türöffner

Dr. Isabel Brandhorst

Wie können Eltern ihren Kindern einen verantwortungsvollen Medienkonsum beibringen?
Beispielsweise über ihr Vorbildverhalten, aber auch über Familienrituale. Ist es etwa üblich, dass man das Smartphone permanent dabeihat und das persönliche Gespräch immer vom Smartphone unterbrochen wird? Dann wird sich auch das Kind entsprechend verhalten. Mediennutzungsregeln sind wichtig, sollten aber mit dem Kind ausgehandelt werden, damit sich der Widerstand reduziert. Inhalte sollten dabei mindestens genauso relevant sein wie der Zeitpunkt und die Dauer der Nutzung. Eltern, die von den Jugendlichen als Kooperationspartner empfunden werden, können mehr Einfluss nehmen. Eltern, die nur Zeiten begrenzen und kontrollieren und die Vorlieben des Kindes ablehnen, werden eher als Gegner wahrgenommen. Die Eltern-Kind-Beziehung kann so zum wichtigen Einflussfaktor werden.

Hatte die Corona-Zeit Auswirkungen auf  die Suchtzahlen?
Die Corona-Zeit hat die Zahl der süchtigen Jugendlichen erhöht, danach ist sie aber wieder gesunken: bei Computerspiel-Süchten von 6,3 auf 4,3 Prozent. Bei Social-Media-Süchten nur von 6,7 auf 6,1 Prozent. Im Vergleich zu der Zeit vor Corona haben sich aber beide Zahlen verdoppelt. Besonders beunruhigend ist die Zahl derjenigen, die etwa einen Kontrollverlust erleben oder für die Social Media wichtiger ist als andere Lebensbereiche. Bei dieser sogenannten Risikogruppe sind wir inzwischen bei 24,5 Prozent der Jugendlichen. Vor Corona waren es 8,2 Prozent.

Wen sehen Sie in der Pflicht, gegenzuwirken?
Das schulische Setting ist ein absoluter Schatz, weil wir da alle Jugendlichen erreichen, unabhängig von Bildungshintergrund und sozialer Schicht. Aber auch die Eltern müssen viel mehr an die Hand genommen werden. Wir sehen, dass die Zufriedenheit der Eltern mit der eigenen Medienerziehung mit steigendem Alter der Kinder sinkt.

In welcher Rolle sehen Sie die Politik?
Auch sie sollte sich mehr damit auseinandersetzen, welche Gefahren es gibt und wie man mit diesen umgehen kann. Ich habe das Gefühl, es gibt in Europa viele Vorreiter und Deutschland trottet hinterher, wenig eigenmotiviert. In den Niederlanden, in Italien und Großbritannien sind Handys auf dem Schulhof verboten, in Frankreich gibt es Kontrollen für das Nutzungsal-ter. 2022 hatten 28 Prozent der deutschen Acht- bis Neunjährigen schon einen Tiktok-Account. Dabei sind die Kinder noch zu jung und oft überfordert. Da brauchen wir mehr Orientierung und die muss die Politik geben.

Letzte Frage: Nutzen Sie denn selbst soziale Medien?
Ich habe schnell gemerkt, dass mir das gar nicht guttut. Sie ziehen mich wirklich in den Bann, ich bin abgelenkt. Nach jedem Post habe ich ständig geschaut, ob ihn schon jemand gelikt hat. Ich beschäftige mich also nur noch beruflich mit den sozialen Medien, um meine Patienten besser zu verstehen. Am allermeisten lerne ich dabei von den Jugendlichen selbst. Es ist in der Therapie wichtig, zu wissen, wie das Medium durch die Augen meines Patienten wahrgenommen wird. Meine eigene Meinung ist dabei weniger wichtig. /

(Dieses Interview erschien in der WNA-Ausgabe 12/2024+1/2025.)

Vita

Dr. Isabel Brandhorst wurde 1984 in Pforzheim geboren. Sie studierte an der Universität Tübingen Psychologie und arbeitet seit ihrer Promotion am Universitätsklinikum.

Seit 2012 ist sie Therapeutin in der ambulanten Kinder- und Jugendpsychiatrie Tübingen, deren Leitung sie von 2018 bis 2019 innehatte. 2020 wurde sie Leiterin der Forschungsgruppe „Internetbezogene Störungen und Computerspielsucht“.
Mehr Informationen gibt es auf www.elterntraining-internetsucht.de