Polizeipräsident Udo Vogel

„Es findet kein Diskurs mehr statt“

Der Reutlinger Polizeipräsident Udo Vogel ist für die Sicherheit von über 1,2 Millionen Menschen zuständig. Ein Gespräch über die subjektive und objektive Kriminalitätslage, den Polizeiberuf und die Dinge, die ihm Sorgen bereiten.

IHK Reutlingen, Tübingen und ZollernalbSeit gut zwei Jahren im Amt: Polizeipräsident Udo Vogel Foto: Polizeipräsidium Reutlingen

WNA: Ein Blick in die Kriminalstatistik des Polizeipräsidiums Reutlingen zeigt: Es gibt immer weniger Straftaten. Auch ganz Baden-Württemberg wird immer sicherer. Das Gefühl der Bürgerinnen und Bürger ist jedoch oftmals ein anderes. Woran liegt das?
Vogel: Tatsächlich weicht das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung sehr oft von der objektiven Kriminalitätslage ab. Die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, basiert bei den allermeisten Menschen nicht auf eigenen Erfahrungen, sondern auf Fällen, von denen die Leute gehört oder gelesen haben. Über die mediale Berichterstattung, die sozialen Netzwerke und Messengerdienste verbreiten sich spektakuläre Einzelfälle in Windeseile in der ganzen Republik – oft noch angereichert mit Kommentaren fraglichen Wahrheitsgehalts und wenig hilfreichen Spekulationen und Theorien. Unwillkürlich befürchten die Leute, dass ihnen dasselbe schon morgen selbst widerfährt.

Was können Sie dagegen tun?
Wir als Polizei müssen diese Ängste ernst nehmen. Daher orientieren wir uns bei der Bekämpfung von Straftaten und der Prävention nicht ausschließlich an der objektiven Lage. Wir dürfen die Sensibilität dafür, was die Leute als besonders bedrohlich empfinden, nie verlieren.

Die Kriminalstatistik legt auch offen, dass es immer mehr Sexualstraftaten gibt, vor allem im Bereich der Kinderpornografie. Steigen die Fallzahlen tatsächlich oder deckt die Polizei einfach mehr Delikte auf?
Die Delikte im Zusammenhang mit kinderpornografischen Schriften haben sich im Bereich unseres Präsidiums in den vergangenen fünf Jahren mehr als verdreifacht. Hier schlägt sich nicht nur eine veränderte Anzeigenbereitschaft nieder. Auch bessere technische Möglichkeiten zur automatischen Auswertung großer Datenmengen helfen, das Dunkelfeld schneller aufzuhellen. Den gleichen Effekt hat die Zusammenarbeit mit Ländern, in denen die Internetanbieter gesetzlich verpflichtet sind, jedes hochgeladene Bild zu überprüfen und gegebenenfalls zu melden. Über das BKA kommen die Hinweise dann zu uns. Und dann gibt es noch die sogenannte „Schulhof-Pornografie“, die immer weiter zunimmt.  Jugendliche leiten Bilder sexuellen Inhalts in Whatsapp-Gruppen unbedarft weiter. Ist darauf jemand unter 14 Jahren zu sehen, ist es rechtlich gesehen ein kinderpornografisches Bild. Wer es auf dem Handy hat, macht sich strafbar. Auch das schlägt sich in der Statistik nieder.

„Wer bei rechten Netzwerken und Polizeigewalt wegschaut, macht sich zum Teil des Problems“

Udo Vogel

Eine weitere Bedrohung aus dem Netz sind Cyberangriffe. Auch die IHK-Organisation wurde zuletzt Opfer von Cyberkriminalität. Ist die Polizei adäquat ausgestattet, sodass die Täterinnen und Täter auch gefasst werden können?
Wir haben in diesem Bereich in den vergangenen Jahren technisch, personell und taktisch deutlich aufgeholt. Auch die Justiz leistet in ihren Schwerpunktabteilungen für Cyberkriminalität einen unverzichtbaren Beitrag. Man hat erkannt, dass sich die Ermittlungsbehörden in diesem Deliktsbereich genauso vernetzen müssen wie die Täter es tun. Die großen Erfolge werden meist in internationalen Ermittlungskooperationen, teils nach jahrelangen Ermittlungen, eingefahren. Es ist die Teamarbeit, die zum Erfolg führt – zu einer Festnahme, zur Zerschlagung eines kriminellen Netzwerks, zur Beschlagnahme von Servern. Auch wenn Täter nicht identifiziert werden können, gelingt es aufgrund der Ermittlungen immer wieder, Firmen, die ganz konkret im Visier der Täter stehen, rechtzeitig zu warnen, bevor ihre Daten verschlüsselt werden. Aber trotzdem gibt es in diesem Bereich noch viel zu tun.

Auch für die Unternehmen?
Ja, nicht nur für uns als Ermittlungsbehörden, sondern auch für die potenziellen Opfer. In ihren entsprechenden Vorträgen warnen unsere Ermittler immer: „Es ist nicht die Frage, ob es passiert, sondern wann es passiert.“ Deshalb der Appell an alle Unternehmerinnen und Unternehmer: Machen Sie Ihre IT-Systeme fit und resistent gegen solche Angriffe. Diese Investition lohnt sich, stehen doch Unternehmen, deren Daten verschlüsselt oder entwendet werden, oft kurz vor dem Ruin. Auch der Imageschaden, den ein solcher Angriff bei Kunden und Geschäftspartnern hinterlässt, ist immens.

IHK Reutlingen, Tübingen und ZollernalbGewalt gegen Polizeibeamte nimmt in Baden-Württemberg seit fünf Jahren stetig zu. 2021 wurden insgesamt 267 Polizistinnen und Polizisten verletzt, zwei davon schwer. Dreiviertel der Täter stehen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Foto: Mummert-und-Ibold - stock.adobe.com

Polizistinnen und Polizisten sind zunehmend Gewalt ausgesetzt. Wie können Ihre Kollegen besser geschützt werden?
Im Jahr 2021 haben die Zahlen in unserem Zuständigkeitsbereich mit 485 einen neuen Höchststand erreicht. Oft ist Alkohol oder eine andere Droge im Spiel. Aber auch der gesellschaftliche Wandel spielt eine Rolle: Das Individuum steht über allem und nur die eigene Meinung zählt. Unverhohlen wird ein für ganz andere Situationen im Grundgesetz verankertes Widerstandsrecht missbraucht. Damit wird sogar Gewalt gerechtfertigt. Meine Kolleginnen und Kollegen werden als Nazis beschimpft, nur weil sie jemandem Grenzen aufzeigen. Trotzdem erlebe ich, dass sie ihren Beruf mit großer Leidenschaft, mit Herzblut und hohem Engagement ausüben. Dabei müssen die Vorgesetzten sie unterstützen. Aber es bedarf auch der Unterstützung des Gesetzgebers und der Politik. Die Einführung des Tatbestands des „tätlichen Angriffs auf Polizeibeamte“ vor ein paar Jahren und die Strafverschärfung waren richtig und ein wichtiges Signal. Wir brauchen aber auch die Unterstützung und den aktiven Zuspruch der Bevölkerung.

Gleichzeitig muss die Polizei auch Kritik einstecken – es geht um Vorwürfe wie rechte Netzwerke im Inneren oder auch um Polizeigewalt. Schafft die Polizei an dieser Stelle zu wenig Transparenz?
Meine klare Haltung ist „Nicht bei uns!“ Beamtinnen und Beamte müssen sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen und für deren Erhaltung eintreten. Da drücken wir kein einziges Auge zu. Ich sehe da insbesondere die direkten Vorgesetzten in der Pflicht, genau hinzuschauen. Sie sind für mich die „Brandmelder“. Wer wegschaut, macht sich zum Teil des Problems. Kommt es zu Verdachtsfällen, werden diese mit allem Nachdruck überprüft und – wenn sie sich bewahrheiten  –straf- und disziplinarrechtlich konsequent verfolgt. Wogegen ich mich wehre, ist der Generalverdacht, der manchmal damit einhergeht, dass die Polizei und ihr Handeln generell infrage gestellt werden. Fälle konsequent zu verfolgen und stets zu hinterfragen, ob es ein Netzwerk gibt, ist richtig. Einzelfälle in verschiedenen Bundesländern automatisch zu verknüpfen und als bundesweites Netzwerk darzustellen, halte ich für falsch.

Hintergrund

Mit 3.547 Straftaten pro 100.000 Einwohner liegt die Region bei der Kriminalitätsbelastung deutlich unter dem landesweiten Durchschnitt von 4.380 Straftaten pro 100.000 Einwohner. (Quelle: Kriminalstatistik des Polizeipräsidiums Reutlingen, 2022)

Warum sollten junge Menschen in den Polizeidienst eintreten?
Der Polizeiberuf ist anspruchsvoll und erfordert junge, intelligente und engagierte Menschen. Gerade jetzt, wo wir viele Altersabgänge haben, sind die Einstellungschancen besonders gut. Ein alter Werbeslogan lautete: „Polizei – so interessant wie das Leben“. Und so ist es auch. Kein Tag ist wie der andere. Man weiß nie, was einen im nächsten Dienst erwartet. Darüber hinaus bietet die Polizei einen krisensicheren Arbeitsplatz mit sicherem Einkommen, das eine verlässliche Lebensplanung ermöglicht. Innerhalb der Polizei kann man sich über viele Jahre flexibel weiterentwickeln und innerhalb der Organisation über eine sehr gute Ausbildung und Studiengänge aufsteigen. Aber auch für Quereinsteiger haben wir beispielsweise im Bereich der Cyber- oder Finanzermittlungen immer wieder Angebote für entsprechende Fachkräfte.

Auch für Frauen?
Früher war die Polizei noch ein sehr männlich dominierter Bereich, das hat sich jedoch deutlich gewandelt. Frauen sind aus dem Kreis der Beschäftigten nicht mehr wegzudenken. Hier hat sich auch im Bereich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie viel getan, wovon auch die Männer bei der Polizei profitieren.

„Ich habe meine Entscheidung für diesen Beruf nie bereut“

Udo Vogel

Was hat Sie persönlich motiviert, Polizist zu werden?
Bevor ich zur Polizei gegangen bin, habe ich einen handwerklichen Beruf erlernt. Ich wollte aber mehr mit Menschen arbeiten. Ein guter Freund, der zur Polizei ging, hat mich angespornt, es ebenfalls zu versuchen. Alle gerade angeführten Argumente, die für den Polizeiberuf sprechen, kann ich nur bestätigen. Ich habe meine Entscheidung für diesen Beruf nie bereut.

Sie sind nun seit zwei Jahren oberster Hüter von Recht und Ordnung hier in der Region: Was bereitet Ihnen aktuell Sorgen?
Es gibt mehre Dinge, die mir Sorgen bereiten. Dazu gehört beispielsweise mein Eindruck, dass unsere Gesellschaft extremer wird. Viele Menschen haben richtigerweise zu Themen wie Impfpflicht, Klimakatastrophe, Flüchtlings- und Migrationssituation ihre persönliche Auffassung, vertreten diese aber immer öfter sehr dogmatisch und nehmen Gegenargumente gar nicht mehr zur Kenntnis. Es findet kein Diskurs mehr statt. Ich habe auch den Eindruck, dass bei uns die sogenannte „soziale Schere" immer weiter auseinandergeht. Die aktuelle Krisensituation in der Ukraine, die damit verbundene Energiekrise und die hohe Inflation verstärken diese Situation zusätzlich. Angesichts der Folgen für die Wirtschaft kommt die Angst der Menschen vor dem Verlust des Arbeitsplatzes hinzu. All dies hat Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und damit auch auf die Arbeit der Polizei. Direkter auf die Polizei bezogen machen mir die vielen Einsätze mit psychisch auffälligen Menschen Sorgen. Sie sind für meine Kolleginnen und Kollegen sehr anspruchsvoll und es wird immer schwieriger, diesen Menschen  nach der polizeilichen Intervention in unserer Gesellschaft die richtigen Hilfsangebote zukommen zu lassen.

Und was macht Ihnen Hoffnung?
Jede Gesellschaft und jede Generation hatte ihre eigenen Probleme, musste sich damit auseinandersetzen und hat letztendlich für viele Bereiche Lösungen gefunden. Ich glaube, das könnten wir in der Zukunft auch wieder schaffen. Es gibt jedoch globale Probleme, die inzwischen so groß sind, dass wir sie – wenn überhaupt – nur noch als „Weltgemeinschaft“ lösen können. Hier bin ich zurzeit leider etwas skeptisch, ob dies angesichts der menschlichen Eigenschaften wie Machtstreben und Gier gelingt. /

(Dieses Interview erschien in der WNA-Ausgabe 10+11/2022.)

Vita

Udo Vogel wurde 1964 geboren. Er nahm nach einer Ausbildung im Handwerk 1983 den Polizeidienst im mittleren Dienst auf.

Zehn Jahre später stieg er zunächst in den gehobenen Polizeivollzugsdienst, nach weiteren acht Jahren in den höheren Dienst auf.

Nach mehreren Führungspositionen leitete er ab 2014 in Stuttgart das Präsidium Technik, Logistik, Service der Polizei.

Seit August 2020 ist Udo Vogel Polizeipräsident des Präsidiums Reutlingen und damit zuständig für die Sicherheit in den Landkreisen Esslingen, Reutlingen, Tübingen und im Zollernalbkreis. Auch der Flughafen und die Landesmesse Stuttgart gehören zum Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums.