Chefdirigentin Ariane Matiakh

„Die Zeit der Tyrannen ist vorbei“

Mit „Bonjour, Ariane!“ wurde die neue Chefdirigentin der Württembergischen Philharmonie Reutlingen im Sommer auf Plakaten begrüßt. Nun sind die ersten Konzerte gespielt, Ariane Matiakh ist angekommen. Im Interview spricht sie über die Beziehung zum Publikum, die Aktualität alter Musik und die Frage, was Führungskräfte von Dirigenten lernen können.

IHK Reutlingen, Tübingen und ZollernalbLeitet seit Beginn der Spielzeit 2022/2023 das Orchester der Württembergischen Philharmonie in Reutlingen: Chefdirigentin Ariane Matiakh. Foto: Marco Borggreve

WNA: Ihr erstes Konzert mit der Württembergischen Philharmonie Reutlingen (WPR) erhielt viel Lob in der regionalen Presse, Kritiker waren nahezu hingerissen. Wie wichtig ist Ihnen dieser Zuspruch?
Matiakh: Beim Thema Kritik bin ich schon einen langen Weg gegangen. Wenn sie positiv ausfällt, ist sie natürlich sehr angenehm (lacht). Ich habe mich sehr für das Orchester gefreut, dass das erste Konzert so ein Erfolg war. Noch wichtiger ist mir persönlich aber die Verbindung zum Publikum. Die Presse begleitet uns und ist natürlich wichtig, aber ich versuche, Kritik nicht so sehr zu beachten und mich eher auf mein Gefühl zu verlassen. Vor unserem ersten Konzert hat das Orchester so hart gearbeitet und in der Woche davor wurde mir klar: Das kann nur gut werden! Unsere Musikerinnen und Musiker haben ein so hohes Level erreicht, ich war richtig stolz.

Wie empfinden Sie das Reutlinger Publikum?
Ich liebe das Publikum in Reutlingen. Ich finde, dass es sehr neugierig ist und viel Wissen über Musik, aber auch über Kunst und Philosophie mitbringt. Was mich fasziniert, ist dieser Durst nach Kultur. Auch wenn einzelne Musikstücke nicht bekannt sind, spüre ich eine große Offenheit. Die Leute hier haben Lust auf Musik.

Sie kannten das Orchester bereits vor Ihrem Antritt als Chefdirigentin. Was zeichnet es aus?
Dass das Orchester so gut aufgestellt ist, ist das Ergebnis einer langen Politik. Man hat die Musikerinnen und Musiker gepflegt, man hat ihnen gute Arbeitsmöglichkeiten gegeben. Die Philharmonie ist toll, die Stadthalle ist toll. Wir haben ambitionierte Programme mit verschiedensten Stilen und das Orchester kann das alles spielen – mit großer Freude. Das macht einen Unterschied gegenüber anderen Orchestern und begeistert mich sehr. Ich habe meine Standards, aber ich liebe es, in unterschiedlichen Epochen und Stilen Musik zu entdecken. Es ist toll, dass das Orchester das alles mitmacht.

Kunst und Kultur kämpfen schwer mit den Folgen der Corona-Pandemie. Das Publikum kehrt nicht wie erhofft in die Konzertsäle zurück. Haben sich die Leute schon zu sehr an das Leben in den eigenen vier Wänden gewöhnt?
Das Publikum kommt langsam zurück, das Sinfoniekonzert im November war ausverkauft. Wir brauchen Konzerte. Es ist für uns Menschen essenziell, mit anderen Menschen zusammen zu sein und nicht nur alleine zu Hause zu sitzen. Wir sind dafür nicht gemacht. Manche haben sicher noch Angst davor, sich anzustecken – aber ich bin optimistisch, dass immer mehr Leute zurückkommen werden, je mehr Zeit vergeht.

„Wichtiger als eine gute Kritik ist mir die Verbindung zum Publikum“

Ariane Matiakh

Die landläufige Meinung ist: Das Publikum bei klassischen Konzerten ist überaltert und gleichzeitig wird es immer kleiner. Dabei zeigen Zahlen, dass das so nicht stimmt. Hat klassische Musik ein Imageproblem?
Leute in meinem Alter haben alle Kinder und in dieser Lebensphase ist es einfach schwierig, abends mal wegzugehen. Wenn man wenig Zeit hat, ist das klassische Konzert nicht immer die erste Wahl. Das kann ich verstehen. Umso wichtiger ist es, dass wir kluge Programme machen, die auch junge Leute anlocken – und ich sehe erfreulicherweise viele junge Leute bei unseren Konzerten.

Was würden wir verlieren, wenn es diese Kultur des klassischen Konzerts nicht mehr gäbe?
Sehr viel! Die Emotionen, die man während eines Live-Konzerts erlebt, die Energie im Raum, den Austausch zwischen Orchester und Publikum – das alles kann eine Aufnahme niemals abbilden. Klassische Musik ist ein Spiegel der Menschheit. Immer wieder denke ich beim Dirigieren: Das Stück ist total aktuell. Vor Kurzem habe ich die zweite Sibelius-Sinfonie dirigiert, die vor über hundert Jahren komponiert wurde. Darin geht es darum, wie Finnland gegen den Druck Russlands um seine Identität kämpft. Und wenn ich sehe, was in der Welt derzeit passiert, dann kann Musik aus der Vergangenheit kaum aktueller sein.

Das Orchester der WPR hat neue interaktive Formate gestartet. Bei „Mittendrin“ kann das Publikum an Proben teilnehmen, mit „Mein erstes Mal“ sollen neue Fans für die klassische Musik gewonnen werden. Wie erleben Sie und die Musikerinnen und Musiker diese Veranstaltungen?
Ganz neu bei den interaktiven Formaten ist, dass das Publikum zwischen dem Orchester und mir sitzt. Beim Dirigieren kann ich also direkt die Reaktionen des Publikums sehen und spüre es nicht nur in meinem Rücken. So können das Orchester und ich eine viel engere Beziehung zum Publikum schaffen, was wir sehr lieben. Viele Besucherinnen und Besucher haben Fragen zur Musik und die können wir dann gleich beantworten. Generell gilt: Je näher wir dem Publikum sind, desto besser wissen wir auch, was es mag und was nicht. So können wir natürlich auch unsere Programme und Konzepte besser ausarbeiten. Der nächste Schritt wäre ein Mitmach-Konzert, bei dem das musizierende Publikum selbst spielt.

IHK Reutlingen, Tübingen und ZollernalbDas Repertoire von Ariane Matiakh erstreckt sich von zahlreichen Opern über ein breites Spektrum an sinfonischen Werken und Balletten bis hin zu zeitgenössischen Kompositionen. Foto: Marco Borggreve

Hintergrund

In der vergangenen Saison dirigierte Ariane Matiahk drei Uraufführungen: ein Violinkonzert von Bryce Dessner, gespielt von Pekka Kuusisto und dem HR-Sinfonieorchester, „Les Eclairs“ von Philippe Hersant an der Opéra Comique de Paris sowie das Harfenkonzert von Sally Beamish im Rahmen der Proms in London, gemeinsam mit dem BBC Orchestra Wales und Anneleen Lenaerts.

Die Württembergische Philharmonie Reutlingen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der Reutlinger Bürgerschaft ins Leben gerufen. Das Sinfonieorchester ist international tätig und hat rund 70 Mitglieder aus ungefähr 15 Nationen. Es bestreitet mehr als hundert Konzerte im Jahr.

Sie wollten schon im Alter von 14 Jahren Dirigentin werden. Woher kam dieser Wunsch?
Meine Mutter war Opernsängerin, mein Vater Opernsänger. Dadurch bin ich schon sehr früh mit dieser Welt in Berührung gekommen und fand sie sehr faszinierend: Es gab die Bühne, auf der komische Dinge passieren. Besonders für eine kleine Tochter, die ihre Eltern beobachtet. Und es gab unten das sehr mysteriöse Klangorgan. Diese Vibrationen spüre ich bis heute, wenn die Musikerinnen und Musiker ihre Instrumente anstimmen. Ich habe mich in der Nähe des Orchesters schon immer sehr wohl gefühlt und das Spiel der Klänge begeistert mich bis heute. Es hat etwas Magisches, wenn ich dirigiere und die Musik höre. Für mich war daher schnell klar, dass ich nichts anderes machen wollte als diese geheimnisvolle Arbeit.

Was muss man dafür mitbringen?
Ich kann nur für mich sprechen. Man muss auf alle Fälle Lust auf die Menschen haben und darauf, mit ihnen zu arbeiten. Ich selbst allein kann keinen Orchesterklang erzeugen, sondern muss Vertrauen zu den Musikerinnen und Musikern aufbauen, um einen Klang zu erhalten. Als Dirigentin oder Dirigent kann man zwei oder drei Instrumente spielen und man lernt, ihren Klang zu kontrollieren. Man darf aber nicht in die Falle tappen und die Instrumente, die man selbst spielen kann, besonders genau kontrollieren. Man muss als Dirigent loslassen, damit sich die Musiker frei fühlen und harmonisch musizieren können. Man muss dabei führen, eine Richtung vorgeben, darf dem Orchester aber nichts auferlegen wie ein Tyrann.

Sie stehen an der Spitze eines Orchesters, zusammengesetzt aus Individualisten. Trotzdem spielen alle nach Ihrem Taktstock. Was können Führungskräfte von Dirigenten lernen?
Was man von der Musik lernen kann: Wir müssen nicht miteinander sprechen, um zu kommunizieren. Es geht mehr darum, zu fühlen, Energie auszutauschen, Körpersprache zu lesen. Mit der Erfahrung, die ich als Dirigentin sammeln konnte, weiß ich, wie es meinem Oboisten geht, wenn ich seinen Klang höre. Man ist nicht jeden Tag die oder der Gleiche – und darauf sollte man Rücksicht nehmen. Ich bin dazu da, gute Laune mitzubringen und Lust auf die Arbeit zu vermitteln. Wie mache ich das?

„Wenn ich sehe, was derzeit in der Welt passiert, dann kann Musik aus der Vergangenheit kaum aktueller sein“

Ariane Matiakh

Das wollen alle wissen!
Man braucht Flexibilität, man muss verstehen, was passiert. Man muss Lösungen finden. Es gibt Tausende Probleme, aber auch Tausende Lösungen. Man muss offen für Leute bleiben, dann hat man auch eine gute Beziehung zueinander.

Sie sehen sich also eher als Teamplayerin denn als Diktatorin am Pult.
Ich kann meinen Arbeitsstil nicht mit einem Wort bezeichnen und möchte es auch nicht. Die Arbeit einer Dirigentin ist vielschichtig. Ich weiß, wer ich bin, ich weiß, was ich anbiete als Mensch und als Musikerin. Aber jeder Tag ist anders, jedes Orchester ist anders. Um nicht tyrannisch zu werden, versuche ich so zu sein wie ich bin und mich nicht zu verstellen. Vor ein paar Jahren hatte man diese Möglichkeit noch nicht, besonders nicht als Frau am Pult. Dirigentinnen mussten früher hart kämpfen und eine autoritäre Rolle spielen. Das wird langsam besser. Musiker spielen viel schöner, wenn kein Tyrann am Pult steht. Viel lockerer!

Sie haben eine Professur in Paris, leben mit ihrer Familie in Straßburg und haben in Reutlingen eine verantwortungsvolle Aufgabe. Gibt es zwei Ariane Matiakhs?
Ich musste die Professur leider aufgeben. Es wurde mir unmöglich, die Aufgabe zu erfüllen. Den Rest manche ich mit Energie und Liebe. Liebe ist für mich der größere Motor. /

(Dieses Interview erschien in der WNA-Ausgabe 12/2022+1/2023.)

Vita

Ariane Matiakh wurde 1980 in Paris geboren. Von 2002 bis 2005 studierte sie Dirigieren an der Musikhochschule in Wien. Erste Erfahrungen als Dirigentin sammelte sie als Assistenzdirigentin am Orchester und an der Opéra National de Montpellier. Es folgten weitere Engagements beim Orchestre de Paris und an Opernhäusern wie zum Beispiel am Royal Opera House in Covent Garden (London) sowie in Amsterdam, Straßburg, Oslo und Stockholm. Zudem dirigierte sie das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin, die Schwedischen Radiosinfonieorchester oder die Radiosinfonieorchester des WDR, HR und MDR. Matiakh erhielt viele Auszeichnungen, etwa den Ehrentitel „Chevalier de l‘Ordre des Arts et des Lettres“ in Anerkennung ihrer Verdienste um das Musikleben in Frankreich.