Lieferengpässe
Worauf müssen sich Unternehmen 2022 einstellen?
Wie angespannt die Lage in der Seefracht weiter ist, zeigen die Frachtraten auf den wichtigsten Passagen nur allzu deutlich: Die Frachtrate für einen Container kostete auf dem Seeweg zwischen Shanghai und Nordeuropa am 10. Dezember 2021 laut der Online-Frachtmarktplattform Freightos um die 14.500 US-Dollar (US$) pro TEU. Damit betragen die Frachtraten auf dieser Rennstrecke im Seefrachtverkehr Ende 2021 das ungefähr Zehnfache der durchschnittlichen Frachtraten der Vor-Corona-Jahre 2015-2019. Das gleiche Bild zeigt sich auf der anderen Rennstrecke zwischen Shanghai und der US-Westküste. Dort kostete der Transport eines Containers zum gleichen Zeitpunkt sogar fast 17.200 US$. Wie stark die internationalen Lieferketten aus dem Gleichgewicht gekommen sind, zeigen die Frachtraten in die andere Richtung: Ein Container von Nordeuropa nach China kostet auf dem Schiffsweg derzeit gut 1.200 US$. Also noch nicht einmal ein Zehntel.
Aber es ist nicht nur die Preisexplosion, die herausfordernd ist, auch die Lieferzuverlässigkeit hat stark nachgelassen. Laut Datenanbieter Sea-Intelligence hielten im Oktober 2021 gerade einmal 34,4 Prozent aller Containerschiffe ihren Fahrplan ein. Zum Vergleich: In den Vorjahren 2018 und 2019 waren in den schlechtesten Monaten zwei Drittel und in den besten Monaten über 80 Prozent aller Containerschiffe pünktlich. Auch die Zahl der Tage, die Containerschiffe im 4. Quartal 2021 weltweit durchschnittlich zu spät sind, lag zwischen sieben und acht Tagen. Zum Vergleich: 2018 und 2019 waren es dreieinhalb bis viereinhalb Verspätungstage gewesen.
Je größer die Verspätung ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Containerschiffe Stopps auslassen, um einen Teil des Zeitverzugs wieder einzuholen. Insbesondere langsam arbeitende Häfen werden am ehesten von der Route gestrichen werden. Das Auslassen von Häfen und damit das Ankommen von Lieferungen in anderen Häfen einer Großregion sollte deshalb eingeplant werden.
Unsicherheitsfaktor China
Eine weitere Herausforderung: Kaum ein Beschaffungsmarkt ist so wichtig wie die Volksrepublik China. Bei zahlreichen Produkten bilden chinesische Lieferanten zusammengenommen die einzige Lieferquelle. Diese Quelle kann jedoch kurzfristig und unerwartet auch in den nächsten Monaten immer wieder versiegen. Denn China hält bislang weiter strikt an seiner Null-Covid-Strategie fest. Die Folge bekamen insbesondere Elektronikimporteure bereits zu spüren, als der südchinesische Hafen Yantian wegen weniger Infektionsfälle unter den dortigen Hafenarbeitern von Ende Mai an für mehrere Wochen zum Teil geschlossen wurde. Das Yantian International Container Terminal verbindet die für die Branche wichtige Provinz Guangdong und ihre Wirtschaftsmetropole Shenzhen gütertechnisch mit dem Ausland und wickelt in Normalzeiten 90 Prozent der Elektronikexporte Chinas ab. Und: Er ist nach den Häfen von Shanghai, Ningbo und Singapur der viert umschlagsstärkste Containerhafen der Welt.
Der Ursprung der Lieferengpässe von Waren aus chinesischer Fertigung in den letzten Monaten begann teilweise schon weit bevor die Produkte in die Häfen gelangten. Mitunter konnte die Ware schlichtweg gar nicht produziert werden. Es fehlte an Energie. Oft gingen Fabriken bei Stromzuteilungen leer aus. Dieses Risiko besteht in den aktuellen Wintermonaten fort, in denen die Unternehmen mit dem Bedarf an Heizenergie besonders stark konkurrieren. Allerdings dürften die Energieengpässe und daraus resultierende Produktionsausfälle weniger oft auftreten als in vergangenen Monaten. China hat große Mengen Kohle und auch Öl und Gas am Weltmarkt eingekauft, und die Stromabstellungen werden inzwischen oftmals vorher angekündigt und sind damit für Produzenten planbarer.
Engpassfaktor Mensch – Schiffscrews am Limit
Etwas Entspannung könnte es an einer anderen kritischen Stelle der Lieferkette geben: Dem Crewwechsel. Die Schiffscrews bilden ein zentrales Rückgrat des internationalen Welthandels. Gerade einmal 1,9 Millionen Seeleute arbeiten laut UNCTAD auf weltweit verkehrenden Frachtern. Und wie ihre Lkw-Kollegen an Land arbeiten sie schon in Normalzeiten unter oft harten Bedingungen, die sich in Corona-Zeiten nochmals verschärft haben. Dadurch droht grundsätzlich auch hier ein Abwandern in andere Berufe. Üblicherweise gehen die Einsätze an Bord über acht bis neun Monate mit laut International Maritime Organization zehn bis zwölf Stundenschichten pro Tag, gefolgt von drei bis vier Monaten Heimaturlaub. In Corona-Zeiten haben sich die Einsätze teilweise drastisch verlängert. Ein Gefühl dafür liefert der „Neptune Declaration Crew Changes Indicator“ (NDCCI), der auf Basis von zehn Schifffahrtslinien und mehr als 90.000 Seeleuten erstellt wird. Der Indikator sagt aus, wie hoch der Anteil der Seeleute ist, deren Einsätze an Bord weiter andauern, obwohl ihre Verträge eigentlich abgelaufen sind. In der Spitze, im August 2021, arbeiteten 9 Prozent aller Seeleute über ihre Vertragszeit hinaus weiter an Bord – meist wegen Schwierigkeiten beim Crewwechsel, und mit entsprechend hoher psychischer Belastung. Seit dem negativen Höchststand im August sinkt der Prozentsatz jedoch von Monat zu Monat. Er lag er im Dezember 2021 bei 4,7 Prozent. Ein Grund für diesen positiven Trend: Sechzig Länder haben Seeleute mittlerweile als systemrelevant anerkannt. Das erleichtert Crewwechsel. (Monatlicher NDCCI)
Deutliche Fortschritte gab es in den letzten Monaten auch bei der Impfquote unter Seeleuten. Diese lag im August 2021 bei gerade 15,1 Prozent. Durch den Aufbau von Impfangeboten in zahlreichen Häfen weltweit konnte die Quote bis Dezember 2021 auf 49,5 Prozent mehr als verdreifacht werden. Ob dieser Impffortschritt in Zeiten der hochübertragbaren Omikron-Variante ausreicht, ist fraglich. Es besteht das Risiko, dass Schiffscrews in Omikron-Zeiten verstärkt unter Quarantäne gestellt werden müssen, mit entsprechenden neuen Verzögerungen in der Lieferkette. Außerdem droht die neue Variante den weltweiten Flugverkehr erneut stark zu beeinträchtigen. Und damit auch die für Crewwechsel notwendigen Flugmöglichkeiten für Seeleute zu ihren Schiffen.
Flugzeug statt Schiff?
Omikron-bedingte weitere Reduktionen des internationalen Flugverkehrs dürften in den nächsten Monaten zudem Ausweichmöglichkeiten weg vom Schiff hin zur Luftfracht verringern. Der Löwenanteil der Luftfracht ist Beifracht (Belly Capacity) in Passagierflugzeugen. Wo kaum Passagierflugzeuge fliegen, fällt auch diese ohnehin teure Alternative zum Seeweg größtenteils weg. Aktuell soll der Anteil der Linienflüge zwischen Deutschland und China ungefähr 2 Prozent des Normalaufkommens betragen. Andersherum heißt das: Wenn Unternehmen abschätzen möchten, wann wieder mehr Luftfracht möglich ist, lohnt es sich, die Entwicklung der Linienflüge im Auge zu behalten. Die Prognose für Linienflüge dürfte in Zeiten von Omikron weltweit jedoch eher düster bleiben.
Mangel an Frachtkapazitäten – Containerproduktion steigt
Zurück auf See. Auf diesem Haupttransportweg des weltweiten Warenverkehrs – 80 Prozent des weltweiten Warenverkehrs werde laut UNCTAD verschifft – bestehen mit den, gemessen am Nachfrageaufkommen, zu geringen verfügbaren Frachtkapazitäten und zu wenigen verfügbaren Containern zwei zentrale weitere Engpassfaktoren.
Containerkapazitäten werden mittelfristig wieder deutlich zulegen, denn alle großen Reedereien bauen ihren Containerbestand teilweise kräftig aus.
Die Containerproduktion ist fest in der Hand dreier chinesischer Hersteller: China International Marine Containers (CIMC), Don Fang International Containers und die CXIC Group vereinigen zusammen über 80 Prozent der weltweiten Produktion auf sich. Branchenprimus CIMC kommt allein schon auf einen Marktanteil von 42 Prozent. Die gute Nachricht: Preise bestimmen auch in diesem Markt Angebot und Nachfrage. Und so verdoppelte CIMC seine Produktion an Standardcontainern im ersten Halbjahr 2021 gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf 1,1 Millionen Einheiten.
Die „letzte Meile“ – vom Hafen in den Betrieb
Auch bei der „letzten Meile“ von den Seehäfen in Rotterdam, Antwerpen, Hamburg & Co zum Bestimmungsort bestehen Engpassfaktoren. Beim Lkw ist es die Verfügbarkeit an Fahrern. Auf der Schiene sind es die hohe Anzahl an Baustellen, insbesondere im deutschen Schienennetz, und der Ausbau der Fernzugverbindungen im Passagierbereich. Die Taktfrequenz an Personenfernzügen hat sich mit Inkraftreten des Winterfahrplans am 12. Dezember 2021 in Deutschland nochmals kräftig erhöht. Durch diese Verdichtung kann es zu zusätzlichen Verzögerungen im Güterzugverkehr kommen. Denn Güterzüge müssen den schnelleren Personenzüge Vorfahrt gewähren. Wie groß die Zeitverluste durch die erhöhte Taktfrequenz tatsächlich sein werden, hängt allerdings auch davon ab, wie viel das sukzessiv in der Einführung befindliche neue Europäische Zugsicherungssystem (ETCS – European Train Control System) seinerseits an Verdichtung wird auffangen können. Einen Überblick über die größten Baustellen 2022 im deutschen Schienennetz gibt es unter: https://inside.bahn.de/grossbaustellen.
Störanfälligkeit reduzieren – Lieferantenalternativen suchen
Was tun bei dieser Vielzahl an Störfaktoren? Kurzfristig bleibt nur die „Jagd“ nach freien Transportkapazitäten und das Erhöhen der Lagerhaltung, was natürlich Liquidität bindet und insgesamt die Liefersituation weiter verschärft.
Allerdings hat sich gerade bei kritischen Produkten auch die Marktmacht zwischen Hersteller und Abnehmer geändert. Der Hersteller sitzt längst am längeren Hebel und kann sich seine Abnehmer je nach Bestellmenge und Zahlungskonditionen selbst auswählen. Um also auch weiterhin innerhalb akzeptabler Lieferzeiten mit ausreichender Liefersicherheit rechnen zu können, lohnt es sich mitunter die Zahlungskonditionen zu überdenken und sie für den Lieferanten zum Beispiel durch Zahlung mit Vorkasse zu verbessern.
Mittelfristig könnte der Umbau hin zu weniger störanfälligen Lieferketten eine strategische Option darstellen. Zumal die Störanfälligkeit der Supply Chain durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), das ab dem 1. Januar 2023 zunächst für Unternehmen mit 3.000 Beschäftigten und ab dem 1. Januar 2024 für Unternehmen mit 1.000 Beschäftigten gilt, weiter zunehmen dürfte. Laut Gesetzesbegründung gilt „Befähigen [der Lieferanten] vor Rückzug“. Das bedeutet für betroffene Unternehmen, dass sie ab 2023 (beziehungsweise 2024) Lieferbeziehungen zu einem Lieferanten, bei dem aus Sicht des LkSG Verstöße gegen Menschenrechte vorliegen, nur noch beenden können, „wenn alle Versuche der Risikominderung [das heißt Vorbeugemaßnamen vor erneuten Menschenrechtsverletzungen] gescheitert sind.“
Je mehr Störpotenziale vermieden werden, desto geringer ist die Störanfälligkeit der eigenen Supply Chain. Dies dürfte am besten bei einer hohen Wertschöpfungs- und Fertigungstiefe im eigenen Unternehmen gelingen – wegen der hohen Kosten in der Regel ein kaum sinnvoller und gangbarer Weg. Alternativ kann eine Reduktion der Störanfälligkeit insbesondere bei kritischen Vorprodukten durch Aufnahme weiterer Lieferanten und damit einhergehender Risikostreuung helfen – voraussetzt, dass tatsächliche Lieferantenalternativen bestehen. Es ist wenig gewonnen, weitere Lieferanten, die den gleichen Risiken unterliegen, ins Portfolio aufzunehmen. Ein Beispiel: Ein weiterer chinesischer Lieferant, aus der im Zweifel auch noch gleichen Provinz, dürfte den selben Risiken unterliegen wie der bisherige chinesische Lieferant. Eine wirkliche Risikostreuung dürfte erst bei Aufnahme von Alternativlieferanten aus anderen Ländern oder Weltregionen gelingen. Viele Unternehmen suchen deshalb aktuell nach alternativen Bezugsmöglichkeiten in Südost- und Osteuropa, andere in der Türkei, Nordafrika oder auch Südostasien. Unternehmen, die diesen Weg gehen und Unterstützung benötigen, unterstützt die IHK Reutlingen.
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