Leben mit dem Fluss

Wasser von allen Seiten

Was tun, wenn der Pegel steigt? Zwei Firmen aus Jungingen berichten, wie sie das verheerende Killertal-Hochwasser im Sommer 2008 erlebt haben. Beim Stoll-Areal, einem neuen Reutlinger Gewerbegebiet, ist der Hochwasserschutz fester Teil der Planungen.

Blick auf das Firmengelände der Helmut Diebold GmbH & Co.Dahinter fließt die Starzel: Blick auf das Firmenge-lände der Helmut Diebold GmbH & Co. in Jungingen. Foto: PR

Der Firmensitz der Helmut Diebold GmbH & Co. in Jungingen befindet sich nur einen Steinwurf vom Ufer der Starzel entfernt. Da bietet es sich an, sich den Fluss im Tagesgeschäft zunutze zu machen. „In unseren Produktionsbereichen herrscht eine konstante Temperatur von 21 Grad – aus praktischen Gründen. Denn nur so können wir Genauigkeit im Tausendstel-Millimeter-Bereich gewährleisten“, erklärt Hermann Diebold, der den Werkzeughersteller in zweiter Generation führt.

„Steigt der Fluss, kann man nur noch das Weite suchen“

Hermann Diebold, Helmut Diebold GmbH & Co., Jungingen

Die Kraft des Bachs
Fremdenergie ist für die klimatisierte Fabrik aber kaum notwendig: Rund 80 Prozent der Kühlleistung wird durch freie Kühlung mit Luft erzeugt – und mit Wasser, das über eine firmeneigene Flusswasserentnahmestelle bezogen wird. „Wenn man den kleinen Bach hinter unserem Gelände so sieht, unterschätzt man, wie viel Kraft in der Starzel steckt“, sagt Diebold. „Diese Energie kann man nutzen – aber im Gegenzug muss man auch das Risiko akzeptieren. Wenn ein Fluss über die Ufer tritt, gibt es einen Punkt, ab dem man nur noch das Weite suchen und abwarten kann.“

So erging es dem Unternehmen im Juni 2008. Nach sintflutartigen Regenfällen stand das Wasser in Jungingen damals anderthalb Meter hoch. „Unsere Flusswasserentnahmestelle war weg und direkt vor unserer Garage fing die Überschwemmung an“, erinnert sich Diebold 15 Jahre später.  Abgesehen davon blieb sein Unternehmen vom Hochwasser jedoch weitestgehend verschont. Der Grund dafür: Straßenbauarbeiten auf dem Gelände. Da der Feinbelag noch nicht aufgebracht worden war, waren die Randsteine so hoch, dass das Wasser die Gebäude nicht erreichen konnte.

Firmengebäude der Ridi Leuchten GmbH, daneben fließt die StarzelAls sie 2008 nach heftigen Regenfällen über die Ufer trat, zerstörte sie Maschinen und Materialvorräte: die Starzel neben dem Firmengebäude der Ridi Leuchten GmbH. Foto: PR

„Das hat uns vor einem Millionenschaden gerettet“, erzählt Hermann Diebold. Nach dem Hochwasser nahm er daher Kontakt zum Bürgermeister von Jungingen auf und bat darum, die Straße im Sinne des Hochwasserschutzes ohne den Feinbelag zu belassen. „Leider ohne Erfolg: Die Straße war genehmigt, die Gelder waren bewilligt und der Feinbelag kam schlussendlich doch drauf.“

Alle Register gezogen
Andernorts ging die Sache nicht ganz so glimpflich aus. Auch der Firmensitz der Ridi Leuchten GmbH in Jungingen liegt in unmittelbarer Nähe der Starzel. Als das Unternehmen 1952 gegründet wurde, lag es nahe, diesen Standort zu wählen. „Auf diesem Grundstück stand das Wohnhaus meiner Eltern“, berichtet Geschäftsführer Manfred Diez. „Als mein Vater sich als Elektriker selbstständig machte, richtete er hier seine Werkstatt und später auch ein Ladengeschäft ein.“ Ab den 1960er-Jahren entwickelte sich die Firma dann zum Industriebetrieb. „Um Platz für die Produktion zu schaffen, wurden näher am Ufer neue Hallen gebaut.“

„Das Wasser kam rasend schnell“

Manfred Diez, Ridi Leuchten GmbH, Jungingen

Hochwasserschutz war dabei kein Thema – Probleme hatte es hier zu diesem Zeitpunkt schließlich noch nie gegeben. Als am Abend des 2. Juni 2008 aus Starkregen plötzlich mehr wurde, blieb daher nur eines: Improvisieren. „Da wir im Zwei-Schicht-Modell arbeiten, hatten wir das große Glück, dass noch Leute im Werk waren“, erinnert sich Diez. „Das Wasser kam rasend schnell von allen Seiten, nicht nur aus der Starzel, auch über die Bundesstraße.“ Das Team von Ridi traf daraufhin eine Entscheidung: Alle Versuche, das Werk abzudichten, wurden auf eine einzige Halle konzentriert. Während das Wasser an anderen Stellen rund einen Meter hoch stand und sowohl Maschinen als auch Materialvorräte zerstörte, konnten so wenigstens die teuersten Anlagen gerettet werden.

Aus der Vogelperspektive: Blick auf das künftige Stoll-Areal in ReutlingenDas Stoll-Areal aus der Vogelperspektive: Dort, wo am oberen Bildrand derzeit noch eine Straße verläuft, soll in ein paar Jahren wieder die Echaz fließen. Foto: Amt für Stadtentwicklung und Vermessung Reutlingen, 2023

Damit sich solche Szenen nie wieder abspielen, hat die Ridi Leuchten GmbH seit 2008 in Sachen Hochwasserschutz alle Register gezogen. Inzwischen ist das gesamte Areal mit modernen Wasserbarrieren ausgerüstet, die sich teils sogar automatisch schließen, sobald Wasser in die Gebäude zu laufen droht.

Und das Verhältnis zur Starzel? Das hat sich auch längst wieder entspannt: „Im Zuge unseres letzten Neubaus haben wir Terrassen mit Blick aufs Ufer angelegt, damit unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Sommer draußen sitzen können“, berichtet Manfred Diez. „Das fühlt sich dann fast an, als wäre man am Strand.“

Attraktive Lage
Wie das Thema Hochwasserschutz bereits bei der Quartiersplanung berücksichtigt werden kann, zeigt das Stoll-Areal in Reutlingen. Die Geschichte dieses Gewerbegebiets beginnt 1878 mit Heinrich Stoll, der am Echaz-Ufer seine erste Fabrik errichtet.

„Bis 2026 wollen wir einen erheblichen Anteil der versiegelten Fläche am Ufer renaturieren“

Angela Weiskopf, Reutlinger Baubürgermeisterin

„Zu dieser Zeit waren Firmensitze am Fluss besonders attraktiv, weil sie eine zuverlässige Versorgung mit Wasser und Energie bedeuteten“, sagt die Reutlinger Baubürgermeisterin Angela Weiskopf. „Allerdings wurden die Gewässer damals meist stark baulich eingefasst, um die nutzbare Fläche zu maximieren.“ So erging es auch der Echaz: Um Raum für das wachsende Unternehmen zu schaffen, wurde das Stoll-Areal bis ans Ufer versiegelt. Daran soll sich nun etwas ändern.

Ökologie und Ökonomie Hand in Hand
Als der Reutlinger Flachstrickmaschinenhersteller Stoll seinen Firmensitz 2022 nach Betzingen verlegte, entwickelte die Stadt Reutlingen gemeinsam mit dem neuen Grundstückseigentümer, der Firma Trias, ein Konzept für die Neugestaltung des Areals: In Zukunft sollen hier Ökologie und Ökonomie Hand in Hand gehen. „Bis 2026 wollen wir einen erheblichen Anteil der versiegelten Fläche am Ufer renaturieren“, erklärt Weiskopf. „Die Stadt Reutlingen wird dem Investor diesen Teil des Grundstücks abkaufen und darauf öffentliche Grünflächen und einen Fußgängerweg anlegen.“

Um Raum für diese Renaturierung zu schaffen, muss allerdings auch die Bebauung ein Stück vom Ufer abrücken. Um trotzdem möglichst viel Gewerbefläche zu erhalten, wird auf dem verbleibenden Gewerbeareal nachverdichtet. „So entsteht ein urbanes produktives Quartier am Fluss, das den Standort für Firmen attraktiv macht und obendrein zum Hochwasserschutz beiträgt“, so Weiskopf. „Das Stoll-Areal befindet sich aktuell in einem Überschwemmungsgebiet – und wenn die Echaz in Zukunft über die Ufer tritt, sollen die renaturierten Grünflächen am Ufer ein ausreichend großes Retentionsvolumen bieten, um die Tübinger Vorstadt und Betzingen vor Hochwasser zu bewahren.“ /

(Dieser Artikel erschien in der WNA-Ausgabe 8+9/2023.)