Holocaust-Überlebender Pavel Hoffmann

„Wehrhafte Juden werden gehasst“

Pavel Hoffmann überlebte als Kind das Konzentrationslager Theresienstadt. Als Zeitzeuge erinnert er an die Gräuel der Nazi-Diktatur. Doch wichtiger als die toten sind ihm die lebenden Juden. Ein Gespräch über ritualisierte Erinnerungskultur, modernen Antisemitismus und Kritik am israelischen Staat.

Pavel HoffmannPavel Hoffmann in der Pädagogischen Hochschule in St. Gallen. In die Stadt kam er am 07.02.1945 gemeinsam mit weiteren 1.200 Häftlingen und dem sogenannten „Schweizer Transport“. Die Niederlage der Deutschen vor Augen, versuchte Heinrich Himmler durch die Befreiung von Juden mögliche Strafen für seine Schuld am Holocaust zu mildern. Es blieb bei diesem einzigen Transport – der die Rettung für Hoffmann war. Foto: PR

WNA: Am 7. Oktober 2023 griffen Kämpfer der palästinensischen Terrororganisation Hamas Israel an und lösten damit den Israel-Gaza-Krieg aus. Welche Gedanken hatten Sie an diesem Tag?
Hoffmann: Als ich angefangen habe, mich zu informieren, war ich wie gelähmt. Es war furchtbar. Ich habe die Ereignisse genau verfolgt, konnte jedoch nicht begreifen, dass sie möglich sind. Ich war tagelang nicht in der Lage, klar zu denken. Das ist für andere unverständlich. Ich habe zwei Diktaturen erlebt, die Nazi-Diktatur und die kommunistische Diktatur – und beide waren antisemitisch. Nach alldem war ich überzeugt davon, dass die Juden mit Israel einen Staat haben, der für sie sicher ist. Ich habe mich getäuscht.

Sie sind seit Jahrzehnten als Zeitzeuge unterwegs, um die Erinnerung an die Nazi-Zeit wachzuhalten. Nun ist der Terror gegen Juden zurück. Was bedeutet das für Sie?
Ich persönlich empfinde den Angriff auf Israel als erneuten Holocaust. Da sich die Hamas in ihrem Blutrausch zunächst massiv an Zivilisten und nicht am Militär austobte, konnte dieses immerhin irgendwann eingreifen – wenn auch viel zu spät. Im Gegensatz zur SS, die teilweise versucht hat, ihre Gräueltaten zu verheimlichen, hat die Hamas ihre Taten bewusst gefilmt und live übertragen. Man kann also nicht noch mal sagen: „Wir wussten es nicht.“ Ich bin in einem emotionalen Zustand. Dass dies in einem Staat passieren kann, in dem sich die Juden sicher gefühlt haben, ist für die jüdische Bevölkerung für Jahrzehnte ein Trauma und eine Katastrophe.

In Deutschland wird auf offener Straße gegen Jüdinnen und Juden gehetzt. Gibt es bei uns im Land eine Zukunft für jüdisches Leben?  
Ich glaube nicht daran. Das empfinde ich persönlich aber auch nicht als so schlimm, weil wir einen eigenen Staat mit eigener Nation haben. Nur dort ist jüdisches Leben möglich. Wir Juden sind Weltmeister in der Assimilation. Meine Töchter sind keine Jüdinnen, keine Tschechinnen, sie sind Deutsche.

Man erkennt mich nicht als Jude, ich trage keine Kippa

Pavel Hoffmann

Was fühlen Sie, wenn Sie die antijüdischen Demonstrationen sehen?
Wenn ich die Demos sehe, auf denen „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ skandiert wird, dann läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Dieser Hass. Mein Schwager, der unter Partisanen die Nazi-Zeit überlebt und bis zu seinem Tod in Schweden gewohnt hat, hat schon vor Jahren vor der Gefahr des Antisemitismus unter Eingewanderten gewarnt. Heute sagt seine Familie: Er hatte recht. Zugleich gibt es aber auch Solidarität. Bei einer Demonstration 2014 in Stuttgart haben sich viele Nichtjuden für Israel stark gemacht, umgeben von Polizei und Hamas-Anhängern. Als ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich mir wegen meiner Diktaturerfahrung geschworen, in keine Partei oder Vereinigung einzutreten. Doch nach der Demo bin ich Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft geworden, weil sie diese Demonstration organisiert hatte.

Haben Sie persönlich Diskriminierung oder Bedrohung erlebt?
Man erkennt mich nicht als Jude, ich trage keine Kippa. Aber als ich in Tübingen auf dem Holzmarkt einen Vortrag hielt, sprach mich danach ein arabischstämmiger junger Mann an. Er meinte zu mir: „Alle Juden werden begraben. Du auch.“ Einfach so. Mit der Hand am Kinderwagen. Ich war schockiert und konnte nicht antworten. Ein Freund meinte dann: „Es stimmt: Wir alle werden begraben. Die Frage ist aber, wann.“ Es gibt da auch eine Geschichte aus einer Schule in Bad Mergentheim, an der ich einen Vortrag gehalten habe. Die Lehrerin berichtete mir, dass muslimische Schüler nach meinem Vortrag zu ihr gesagt hätten, dass Hitler einen großen Fehler gemacht hätte: Er habe nicht alle Juden ermordet. Ich antwortete ihr: „Die Jungs können nichts dafür, sie hören diesen Hass zu Hause. Vielmehr entsetzt mich, dass Sie vermutlich kein Wort dazu gesagt haben, weil Sie sich fürchteten.“ Sie antwortet mir: „Ja, Sie haben recht.“

Woher aber kommt der Antisemitismus von links?
Das war schon immer so. Stalin war Antisemit. In der Tschechoslowakei gab es in der Nazi-Zeit offiziell nur Kommunisten als Opfer, keine Juden. Andererseits braucht die linke Ideologie Opfer. Solange die Juden einen gelben Stern getragen haben und man sie getötet hat, waren sie prima Menschen. Deshalb sind die rund sechs Millionen Juden, die von den Nazis umgebracht wurden, die beliebtesten Juden, die man je hatte. Die Rechten haben heutzutage weniger ein Problem mit Juden, seitdem diese einen eigenen Staat haben und sozusagen weg sind. Mit einem starken Staat wie Israel hätte es den Holocaust vermutlich nicht gegeben.

Sie sagen: Israel ist der neue Jude. Empfinden Sie Kritik an Israel als Staat als antijüdisch?
Ich muss lachen. Es heißt immer,  man dürfe Israel nicht kritisieren. Aber wer kritisiert Israel, zum Beispiel im UN-Menschenrechtsrat? Garantiert keine demokratischen Staaten. Die wehrhaften Juden werden heute genauso gehasst wie früher die Juden in der Diaspora. Im Unterschied zu damals nennen sich heutige Antisemiten Israelkritiker. Mein Freund Ahmad Mansour, ein aufgeklärter israelischer Araber, weigert sich, Palästinenser genannt zu werden. Er muss den Deutschen heute erklären: „Antisemitismus ist eine Pandemie, gegen die der Spruch ‚Nie wieder‘ allein kein wirksamer Impfstoff sein kann.“ Ich selbst kann ergänzend nur den Nobelpreisträger und Holocaustüberlebenden Imre Kertész zitieren: „Mein Gott, wie gut, dass ich den Judenstern auf israelischen Panzern sehe und nicht wie 1944 auf meiner Brust.“

Alte Schwarz-Weiß-Fotos zeigen Pavel Hoffmann als Kind, seine Eltern und den einjährigen Pavel mit seiner Großmutter.Foto links: Pavel Hoffmann 1945 bei seiner Ankunft in St. Gallen. Foto oben: Die Großmutter Sidonia Kelety mit dem einjährigen Pavel. Sie wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Foto rechts: Hoffmanns Eltern Elisabeth und Hans wurden ebenfalls getötet. Der Vater wurde 1942 in Prag erschossen, die Mutter starb 1943 im KZ Theresienstadt. Fotos: Privat

Kann jemals wieder ein Versöhnungsprozess beginnen?
Ich weiß es nicht. Solange der Islam sich nicht reformiert, glaube ich nicht daran. Die Frustration unter Arabern ist groß. Sie blicken kritisch darauf, dass es den Juden gelungen ist, den Staat Israel zu schaffen.

Sie sagen über sich selbst, dass Sie kein bequemer Zeitzeuge seien. Wie sieht für Sie gute Erinnerungskultur aus – fernab von ritualisiertem Gedenken?
Nach dem 7. Oktober 2023 muss ich mir die Antwort auf diese Frage noch mal überlegen. Vor diesem Datum habe ich die Dinge so hingenommen, wie sie waren. Ich bin an Schulen gegangen und habe meine Geschichte erzählt. Und sah das als Aufklärung. Es war ein bisschen so: „Das waren die Bösen und wir sind heute die Guten.“ Wie ich jetzt meine Vorträge gestalten soll, weiß ich noch nicht. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob mich meine Frau überhaupt noch Vorträge halten lässt. Seitdem ich mit meiner Geschichte in die Öffentlichkeit gehe, hat sie Angst um mich.

Sie überlebten als Kleinkind als einziges Mitglied Ihrer Familie das Konzentrationslager Theresienstadt. Können Sie sich an diese Zeit erinnern?
Bis auf zwei, drei Erlebnisse habe ich keine Erinnerungen. Ich bin Mitglied einer großen Vereinigung der Holocaust-Überlebenden in Prag. Nach der kommunistischen Diktatur zählte sie 600 Überlebende. Heute sind wir nur noch 18. Einige Menschen kannten mich noch aus der Zeit im Lager oder vom Transport in die Schweiz. Sie haben mir ihre Erinnerungen erzählt. So vermischen sich meine Erinnerungen mit ihren Erzählungen. Im Gegensatz zu anderen Überlebenden kann ich an die Zukunft denken. Ich bin der Einzige von ihnen, der über den heutigen Antisemitismus spricht.

Meine Tante war mein Glück

Pavel Hoffmann

Können Sie von Ihren Erinnerungen erzählen?
Ich sehe einen Appell. Heute weiß ich: Es standen dort rund 50.000 Menschen an einem kalten Novembertag. Über 24 Stunden, und es wurde gezählt und gewartet, gezählt und gewartet. Ich war vier Jahre alt und hatte niemanden mehr. Ich habe geweint und hatte Angst. Der Appell fand statt, weil zwei Menschen aus dem KZ geflüchtet waren. Die SS hat so lange zählen lassen, bis Menschen zusammengebrochen sind. Eine andere Erinnerung stammt aus einem sogenannten Kinderheim. Ein Zimmer mit 20, 25 Kindern und Etagenbetten. Plötzlich bekam die eine Hälfte der Kinder am Abend Plüschtiere. Ich war wahnsinnig neidisch. Am nächsten Tag waren sie nicht mehr da. Sie kamen in die Gaskammer.

Ihre Tante und Ihr Onkel überlebten das KZ Auschwitz. Wie ist ihnen das gelungen?
Meine Tante versteckte sich bei einem slowakischen Bauern. Er hat sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in einen Nebenraum eingemauert. Acht Monate lang haben sie keine Sonne gesehen. Sie hatten nur ein kleines Fenster, durch das sie mit dem Nötigsten versorgt wurden. Mein Onkel kam nicht in die Gaskammer, weil er ein junger Arzt war und im Labor Sklavenarbeit verrichten konnte. Alle anderen meiner Verwandten wurden getötet. Nach dem Krieg fand mich mein Onkel wieder.

Wuchsen Sie dann bei ihm auf?
Nein, zum Glück nicht, da er wie ich traumatisiert war. Er brachte mich zu meiner Tante in die Slowakei. Sie rettete mich. Ich konnte kein Essen bei mir behalten. Sie schickte mich zum Arzt, ich bekam Vitamin-C-Spritzen, ich  musste mich erholen und durfte nichts tun. Ich habe es gehasst. Meine Tante war mein Glück. /

(Dieses Interview erschien in der WNA-Ausgabe 2+3/2024.)

Vita

Pavel Hoffmann wurde 1939 in Prag geboren. Als Vollwaise überlebte er das Konzentrationslager Theresienstadt. Er war von 1943  bis 1945 interniert. Nach der Befreiung lebte er in Tschechien und der Slowakei, studierte in Prag Nachrichtentechnik.

1968 zog Pavel Hoffmann nach Deutschland, seit 1971 lebt er mit seiner Familie in Reutlingen. Hoffmann war Hochschuldozent sowie Marketing- und Entwicklungsleiter.

Seit 2004 tritt er als Zeitzeuge unter anderem vor Schulklassen auf und engagiert sich in der Aufklärung gegen Antisemitismus.

Derzeit arbeitet Hoffmann daran, das Buch „Gas, Gas und dann Feuer“ seines Mithäftlings František Robert Kraus auf Deutsch zu veröffentlichen. Es erschien im September 1945 und berichtet unter dem direkten Einfluss des Erlebten von den furchtbaren Ereignissen.