Polarforscherin Alexandra Zuhr

„Viele Eisberge brechen ab“

Die Internetverbindung in die Antarktis ist im Gegensatz zum Klima stabil: WNA erreicht Polarforscherin Alexandra Zuhr in der Forschungsstation Troll inmitten des (noch) ewigen Eises. Dort erforscht die Tübinger Wissenschaftlerin das vergangene Klima, um für ein besseres Verständnis der Klimaprozesse zu sorgen.

Alexandra ZuhrUntersucht den Schnee von gestern: Alexandra Zuhr sammelt bei ihrem knapp dreimonatigen Forschungsaufenthalt in der Antarktis Klimadaten vergangener Zeiten. Foto: Steven Franke

WNA: Frau Zuhr, Sie sind gerade in der Antarktis, in der norwegischen Forschungsstation Troll. Wie war die Anreise?
Zuhr: Die Anreise verlief relativ reibungslos. Wir sind mit dem norwegischen Polarinstitut geflogen, in 13 Stunden von Oslo nach Kapstadt und dann von dort aus zur Troll-Station. Bei den Wetterverhältnissen, die hier herrschen, muss man immer schauen, wann sich ein Zeitfenster für Flüge ergibt. Selbst wenn es nur wenige Wolken gibt,  ist es für die Piloten extrem schwierig, zwischen Himmel und weißem Untergrund zu unterscheiden. Insgesamt hat unsere Anreise fünf Tage gedauert. Für eine Reise in die Antarktis ist das kurz.

Nehmen Sie unsere Leserinnen und Leser mit in die Antarktis: Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen?
Sehr viel Schnee und Eis, fast alles ist weiß. Da wir uns an den Ausläufern eines Gebirges befinden, gibt es aber auch ein paar Felsen zu sehen. Das ist eine Besonderheit dieser Forschungsstation, dass sie auf Fels gebaut ist – im Gegensatz zur Neumayer-Station, die komplett auf Eis steht. Fels hat Vor- und Nachteile: Wir werden nicht eingeweht, wir versinken nicht. Dafür ist es ohne Schnee schwieriger, die Wasserlogistik zu betreiben.

Sie sind zum ersten Mal in der Antarktis. Ihr erster Eindruck?
Es sind unfassbare Weiten. Dieses Weiß! Man kann ewig schauen. Die nächste Forschungsstation und der nächste Mensch sind mehrere Hundert Kilometer entfernt. Es ist faszinierend, die ganzen Gletscher zu sehen, die durch die Gebirge brechen.

Welche Aufgaben haben Sie in die Antarktis mitgenommen?
Ich arbeite in zwei Kampagnen. Die ersten fünf Wochen werden wir mit dem Polarflugzeug „Polar 6“ vom Alfred-Wegener-Institut unterwegs sein. Unter die Flügel wird ein Radargerät geschraubt, mit dem wir die Eisdicke bestimmen können. Wir sehen dann, wo der Boden unter dem Eis beginnt. Wir können aber auch in das Eis hineinschauen und die verschiedenen Schichten identifizieren. Und genau das ist mein Interessensgebiet. Ich kann aus den internen Schichten ableiten, wie viel Schnee in den vergangenen 500 Jahren gefallen ist. Wenn wir annehmen, dass das Klima wärmer wird, fällt mehr Niederschlag. Das sollte man auf den Radarbildern sehen. Zudem fliegen wir mit einem Team aus zwei Ingenieuren, vier Wissenschaftlern und drei Piloten im Auftrag verschiedene Stationen im Queen Maud Land ab, wie sich das Gebiet hier nennt.

„Anhand des Schnees kann ich 150.000 Jahre zurückschauen“

Alexandra Zuhr

Und der zweite Teil?
Die letzten vier Wochen bin ich an der deutschen Sommerstation Kohnen auf einem knapp 3.000 Meter hohen Plateau. Dort werde ich Radarmessungen am Boden vornehmen. Dabei bin ich auf einem Schneemobil unterwegs, um eine noch bessere Auflösung der zuvor gemachten Aufnahmen zu erreichen. Um die Daten besser auswerten zu können, ist es wichtig zu wissen, wie die Dichte des Schnees und dessen Zusammensetzung ist. Deshalb messe ich auch das.

Sie rekonstruieren anhand der Schneeschichten das Klima vergangener Zeiten. Wie weit können Sie zurückschauen?
Wenn ich von 500 Jahren spreche, sind das nur die oberen 50 Meter, die ich mir anschaue. Auf dem Plateau der Kohnen-Station ist der Schnee 2.900 Meter dick. Dort kann man 150.000 Jahre zurückschauen. Wir datieren anhand von Eiskernen und können damit in anderen Bereichen der Antarktis sogar fast eine Million Jahre zurückgehen.

Alexandra ZuhrEin bisschen Fels und viel Weiß: Das ist momentan der Arbeitplatz von Alexandra Zuhr. Foto: Steven Franke

Was sagt das alte Klima über das der Zukunft aus?
Wir müssen verstehen, wie das Klimasystem funktioniert: welche Prozesse welche Auswirkungen haben, wie die Physik dahinter aussieht, warum es wärmer wird. Nur dann können wir Rückschlüsse auf die Zukunft ziehen. Dabei helfen uns die Klimadaten aus vergangenen Zeiten. Mit ihnen können wir einschätzen, wie die aktuellen Änderungen im Kontext eines langen Zeitraums zu bewerten sind – und wie außergewöhnlich die derzeitigen Änderungen gegebenfalls sind. Alle unsere Klimamodelle basieren auf den Informationen der Vergangenheit, unter anderem auf jenen Eiskernen, die ich eben erwähnt habe.

Und ist die derzeitige Situati-on so außergewöhnlich?
Ja, leider. Man sieht, dass die Temperatur sehr schnell ansteigt. Das ist mit nichts zu vergleichen, was wir je zuvor hatten – zusammen mit den CO₂-Konzentrationen, die wir in der Atmosphäre messen. Der östliche Teil der Antarktis galt lange Zeit als das Gebiet auf der Erde, das vom Klimawandel noch nicht betroffen ist. Mittlerweile erwärmt sich das langgezogenen Stück Richtung Südamerika jedoch schon sehr intensiv. Dort brechen viele Eisberge ab.

Worauf ist das zurückzuführen?
Die Ostantarktis ist von den Ozeanen und den atmosphärischen Strömungen so weit abgetrennt, dass das Gebiet dort wie in einer Schutzzone liegt. Wir haben relativ wenige Wetterstationen, sodass wir auf Radarmessungen zurückgreifen müssen. Hatten wir mehr Niederschlag? Dann wissen wir, dass die Temperatur gestiegen ist. Sollte ich messen, dass sich die Temperatur auch auf dem Plateau erwärmt hat, können wir abschätzen, wie sich das Klima hier in der Ostantarktis zukünftig verhalten wird und wie hoch die Schneeschmelzraten sein werden.

Unlängst gingen Schlagzeilen durch die Medien, dass das  Eis in der Antarktis noch schneller schmilzt als man bislang annahm. Welche Folgen hat das für die Antarktis und für den ganzen Planeten?
Wenn hier Eis abschmilzt, hat das direkte Auswirkungen auf den Meeresspiegel, was man auch in Europa jetzt schon spüren kann. Hat das Meereswasser eine andere Zusammensetzung, hat das Auswirkungen auf die Salinität und die Temperatur des Südozeans, was das Ökosystem beeinflusst. Zudem ändern sich die Ozeanströmungen, die dafür sorgen, dass die Antarktis ein abgekapseltes System ist. Das macht das System fragiler.

Erst vor Kurzem tagte die Antarktis-Kommission CCAMLR, ein Zusammenschluss aus 27 Ländern, die die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis zum Ziel hat. Umweltexperten beklagten, dass es wieder keine Einigung über die Ausweisung von Schutzgebieten, zum Beispiel hinsichtlich der Überfischung, gab. Was macht das Ökosystem der Antarktis besonders?
Die Lebensbedingungen sind sehr extrem und die Tiere, die hier leben, haben sich daran sehr speziell angepasst. Wenn sich die Bedingungen schnell ändern, kommt das Ökosystem nicht mit. Schutzgebiete würden den Druck auf die Populationen mildern, die ohnehin schon unter Überfischung leiden und den Klimawandel spüren. Ohne Schutzgebiete können zudem fremde Arten einwandern, die die heimischen Populationen verdrängen. 

„Ich mache mir Sorgen darüber, wie das Klima in Deutschland in 30 Jahren aussehen wird“

Alexandra Zuhr

Derzeit bestimmen eher kriegerische Auseinandersetzungen die gesellschaftliche wie mediale Debatte. Ärgert es Sie, dass wir über den Klimawandel, der uns alle betrifft, so wenig reden?
Ja und nein. Ich möchte nicht sagen, dass der Klimawandel wichtiger ist als alles andere. Kriegerische Auseinandersetzungen betreffen Menschenleben unmittelbar, das empfinde ich als wichtiger. Viele Menschen haben eine gewisse Sättigung, was die Berichterstattung zum Klimawandel angeht. Das Thema ist groß und sehr weit weg, was dazu führt, dass man es einfacher wegschieben kann. Ich denke dabei aber auch an Flucht und Migration. Aufgrund des Klimawandels werden viele Menschen flüchten, weil es in ihrer Heimat kein Wasser mehr gibt oder zu viele Naturkatastrophen. Deshalb wünsche ich mir natürlich, dass das Thema sowohl in der Wissenschaft als auch in den Medien und in der Politik präsent bleibt.

Macht Ihnen die Entwicklung des Klimas Angst – oder können Sie sie als Wissenschaftlerin ganz nüchtern betrachten?
Ich mache mir viele Gedanken. In den vergangenen 30 Jahren sind die Temperaturen weltweit extrem gestiegen und wir können davon ausgehen, dass es in den kommenden 30 Jahren noch schlimmer werden wird. Ich mache mir Sorgen darüber, wie Deutschland in 30 Jahren aussehen wird. In welche Welt setzen wir Kinder? Wie sieht ihre Zukunft aus?

Wagen Sie eine Prognose?
Das Klima wird trockener und es wird vermutlich mehr Waldbrände geben. Ich habe in Potsdam promoviert. Dort in der Nähe wurden wegen Waldbränden schon Dörfer evakuiert. Das wird künftig häufiger passieren. Die Sommer werden heißer und
gleichzeitig wird es mehr Starkregen geben.

Sehen Sie Ihre Forschung als Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel?
Meine Forschung geht nicht in die Richtung Klimaadaption. Ich beschäftige mich nicht aktiv  damit, wie wir Städte im Sommer angenehmer gestalten oder wie wir CO₂ reduzieren und aus der Atmosphäre binden können. Meine Forschung trägt dazu bei, dass wir das Klima besser verstehen können und unsere Modelle genauer werden. Ich sehe meine Aufgabe auch in der Kommunikation. Ich spreche mit Schulklassen, um den Menschen das Thema näher zu bringen und die Angst davor zu nehmen, dass es zu groß ist. In diesem Sinne versuche ich, mein Wissen in einfachen Worten zu teilen, um zu zeigen, dass man mit vielen kleinen Schritten etwas unternehmen kann.

Was erhoffen Sie sich, von Ihrem Antarktis-Aufenthalt mitnehmen zu können?
Jede Menge gute Daten für meine Forschung. Sicher werden mich die Erlebnisse auch persönlich prägen. Zudem werde ich wieder Videos aufnehmen, um meine Eindrücke mit Schulklassen und auf Veranstaltungen teilen zu können. Ich möchte mit meiner Arbeit im Feld andere begeistern und ihnen den Klimawandel und dessen Auswirkungen näherbringen. /

(Dieses Interview erschien in der WNA-Ausgabe 12/2023+1/2024.)

Vita

Alexandra Zuhr stammt aus Fürth und ist 31 Jahre alt. Sie studierte in Erlangen und Augsburg physische Geografie sowie Klima- und Umweltwissenschaften und promovierte am Alfred-Wegener-Institut in Potsdam. Forschungsaufenthalte absolvierte sie unter anderem in Spitzbergen und Grönland.

Seit Oktober 2023 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Geophysik an der Universität Tübingen.

Zuhrs Forschungsschwerpunkte sind die Rekonstruktion des vergangenen Klimas aus Schnee und Eis in Polarregionen sowie die Veränderung des Klimas.